Finale des Eurovision Song Contests: Kein bisschen Frieden

Die Auseinandersetzungen um den Eurovision Song Contest in Kiew sind dieses Jahr politischer denn je. Gesungen wird trotzdem. Die Platzierungen.

Der Sänger Salvador Sobral singt vor dunklem Hintergrund

Salvador Sobrals alternativer Gesang aus Portugal könnte dem Favoriten aus Italien gefährlich werden Foto: dpa

1. Israel: Imri – „I Feel Alive“. Allerbeste Tel-Aviv-Musik, nach der die aufgeklärte Jugend von Gaza auch gern tanzen würde. Obendrein: Dieser Mann hat nicht nur eine optimierte Mucki-Figur, er kann auch einnehmend lächeln. Disco on the Beach! Performance im Geiste Dana Internationals.

2. Polen: Kasia Moś – „Flashlight“. Noch eine ESC-Dame in hochgeschlitztem Kleid, das ihre Beine barhäutig erkennen lässt. Hat denn dieses Land solche Lockzeichen nötig? Einerlei: Für die gruftigste Ballade des Abends wird sie eine Fülle von Punkten erhalten, weil sie im Ausland lebende Pol*innen niemals im Stich ließen.

3. Weißrussland: Naviband – „Story Of My Life“. Hippie-Enkel, zwei Gitarren – oder um es mit Chris Roberts zu sagen: Hier trägt man Blumen im Haar. Die Landessprache ist nicht schwer zu lernen, um mitzusingen: Es gibt viel temporeiches „Hey, Hey, Hey“. Lohnenswert über Minsk hinaus!

4. Österreich: Nathan Trent – „Running On Air“. Ein frischer älplerischer Bursche, der auch für Butter oder gekühltes stilles Leitungswasser Reklame machen könnte – einfach sympathisch, dieser Ösi mit Grübchen und Mediumkörper. Ein Popsong, der uns noch lange im Radio begleiten wird. Guter Platz möglich.

5. Armenien: Artsvik – „Fly With Me“. Einzige und dazu auch noch fröhliche Ethno-Nummer dieses Abends. Und diese Marktlücke hat die nicht mehr so junge Frau auch genutzt. Frage von Radio Eriwan: Könnte sie gewinnen? Im Prinzip nein, wenn sie ihren Zopf nicht besser flicht.

6. Niederlande: O’G3NE – „Lights & Shadows“. Drei junge Schwestern, die wie reife Las-Vegas-Bar-Veteraninnen aussehen, Pailletten und High Heels, alles dabei. Klingt nach Wilson Philipps – und in manchen Momenten wünscht man sich, ihr Gesang ende nie.

7. Moldau: SunStroke Project – „Hey, Mamma!“. Sonntag ist Muttertag, den feiern sie auch in der ärmsten Ecke Europas. Die Saxofone als Soundträger gehen einem nach drei Minuten auf die Nerven, aber dann ist das Lied Gott sei Dank auch vorbei. Muntere Geschichte, wird vorne landen.

8. Ungarn: Joci Pápai – „Origo“. Es geht um das Schicksal von Roma & Sinti, um diskriminierte Leben – und das Anliegen dieses rappenden HipHoppers ist es, mit einer Tänzerin als Sidekick, auf diese Missstände hinzuweisen. Davon abgesehen: Extrem tanzbares Lied, vorgetragen von einem Sänger, der es in Orbáns Land bestimmt schwer hatte.

Der italienische ESC-Kandidat tanzt auf der Bühne, neben ihm ein Mann in Affenkostüm

Italiens Francesco Gabbani gilt als großer Favorit des Abends Foto: dpa

9. Italien: Francesco Gabbani – „Occidentali’s Karma“. Haushoher Favorit, San-Remo-Sieger mit dem mitreißendsten Canzone dieses ESC-Jahres. Der Mann sprüht vor Gelassenheit, er singt nicht perfekt – aber wen möchte das schon stören? Die postkoloniale Intelligenz und Tierschützer (Achtung: „Human Appropriation“!) mögen sich an der Gorillafigur stören, die dieser Act inkludiert. Ihnen sei gesagt: Ist lustig gemeint.

10. Dänemark: Anja Nissen – „Where I Am“. Die in Australien gebürtige junge Frau schreit ihre Selbstbehauptungen, als sei’s ein Stück aus dem späten Œuvre der Céline Dion – die hat Stimme, laut und umfangreich. Wo ist nur die gute Pølserkultur geblieben? Letztes Drittel.

11. Portugal: Salvador Sobral – „Amar Pelos Dois“. Die Alternative schlechthin zum italienischen Monsterfavoriten. Titel geeignet. Steht am Mikro, kein Pyro, kein Bühnennebel, und lässt vergessen, dass auch in Lusitanien der Kamm populär ist, trägt das Sakko vier Nummern zu groß, wackelt irre mit dem Kopf und rollt sehnsüchtelnd mit den Augen. Grandios!

Favoriten: Italien, Portugal, Rumänien, Belgien

Deutschland: Zuletzt zweimal Letzter. Levina soll’s besser machen.

Politik: Ende März hatte die Ukraine der russischen Teilnehmerin die Einreise verboten. Daraufhin zog Russland seine Teilnahme zurück.

Punkte: Hälfte Jury-, Hälfte Televoting. Zuerst werden aus 42 Ländern die Jurypunkte ­abgerufen – dann die Punkte des Televotings.

Sender: Das Erste, 21 Uhr, one (früher einsfestival), 21 Uhr – oder im Internet: www.eurovision.de

12. Aserbaidschan: Dihaj – „Skeletons“. Irgendwie hat dieser Act so gar nichts Kaukasisches: Die Dame serviert aber in drei Minuten eine Art hochartifizielle Vertonung eines Bertolt-Brecht-Gedichts, Thema: Die Skelette unserer Zeit zermürben unsere Gefühle. Oder so! Vorderfeld.

13. Kroatien: Jacques Houdek – „My Friend“. Scheinbar eine alberne Sache: Ein sehr runder Mann mit dem getrimmtesten Bart des Abends singt einerseits „normal“, dann wieder als Countertenor – aber mit der Zeit fräst sich dieses Tremolo des einzigen ESC-Mannes aus ExJugoslawien in die Ohren. 24. Platz möglich.

14. Australien: Isaiah – „Don’t Come Easy“. Ach, wie schief er in der Qualifikation sang – da heulte man doch gerne, zumal er die balkigsten Augenbrauen des Abends trägt, aus Solidarität mit. Erster First-Nation-Homo der Popszene seines Landes. Mittelfeld!

15. Griechenland: Demy – „This Is Love“. Feministisch argumentiert: Warum soll eine Frau aus Griechenland nicht teuer und überpflegt aussehen? Ihre Dancefloor-Geschichte war und ist kostspielig, sie darf sich auf zwölf Punkte aus Zypern verlassen. Appetitliche Performance, aber halbgar serviert.

16. Spanien: Manel Navarro – „Do It For Your Lover“. Ein verzogenes Surferkind mit einer Frisur, die irgendwo zwischen Dreadlocks und Ungekämmtheit changiert. Absolut plätschernd und doof. Hochstapler, und das nicht einmal auf charmante Weise. Mit diesem Lied: letzter Platz möglich.

Die Berliner Polizei macht mit, die Polizei Hamburg auch. Seit Kurzem ist auch die Wache in Franken auf Facebook und Twitter. Werden Ordnungshüter jetzt #likeable? Außerdem in der taz.am wochenende vom 13./14. Mai: die Wahl im Iran. Präsident Rohani hat gute Chancen auf eine zweite Amtszeit. Eine Reportage aus Teheran und Karadsch. Und: Diana Kinnert ist 26, tätowiert, lebensfroh, lesbisch und das It-Girl der CDU. Ein Gespräch über Partys, Politik und Tod. Das alles – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

17. Norwegen: Jowst – „Grab The Moment“. Elektrosoundloungeformation mit lässigem Act aus der Welt der Fjorde, produziert vom DJ selbst, der auch der Kopf der Band ist. Schnuckel des Abends, geschmacksübergreifend schön – und, nebenbei, literarisch in jeder Hinsicht belesen. Der Lohn möchte ein Top-Ten-Rang sein.

18. Großbritannien und Nordirland: Lucie Jones – „Never Give Up On You“. Pompöse Schnulze in bauschigem Rock, die Vokalpartien erinnern an Drohkulissen: Ein popästhetisches Dokument der Lieblosigkeit, ein stilistischer Halbversuch, es allen recht zu machen. Kandidatin der hinteren Ränge.

19. Zypern: Hovig – „Gravity“. Unerklärlicherweise wurde er ins Finale gehievt. Aber es muss ja dort auch hinten Platzierte geben. Der Man stampfelt sich durch seine Aufgaben, es ist trostlos geistzerstörend. Allzu schwerkräftig und lachhaft kommt der gute Mann daher.

20. Rumänien: Ilinca & Alex Florea – „Yodel It!“. Bayerisches nach Art der Karparten – eine Blondine mit einem Rocker, die den Lockruf der Berge anstimmt und dabei keine üble Figur abgibt? So ist Europa – vermischt. Das Lied zählt zu den Favoriten, und das mit einigem Recht. Flott und fein.

21. Deutschland: Levina – „Perfect Life“. Das Lieder der stylishsten deutschen ESC-Sängerin seit Lena, eine junge Frau aus dem Sächsischen mit Willen zur Weltläufigkeit. Wird sie ihr Land zum dritten Mal in Folge auf den letzten Platz bringen? Nicht mit diesem Timbre.

22. Ukraine: O.Torvald – „Time“. Die chronisch schlecht gelaunten Rockmusiker signalisieren nur dies: Wir tun alles dafür, dass unser Land, die Ukraine, nicht noch mal ein finanziell sehr belastetes Eurovisionsjahr hat: Ungeschüttelter und unsortierter Rockschrummelmix. Irgendwie weit hinten.

23. Belgien: Blanche – „City Lights“. Dieses Herzland unseres geliebten Europas hat so viele gute Sänger*innen. Diesmal ist es allerdings eine, die sich hartnäckig weigert, einen Frisörsalon zu besuchen. Und das gibt Punkte von allen, die sich auch keinem Look-Diktat unterwerfen wollen. Mitfavoritin, weil feinster Pop mit herrlich wehem Blick.

24. Schweden: Robin Bengtsson – „I Can’t Go On“. Man fragt sich bei diesem Lied: Es gibt so viele attraktive Schweden, warum haben die denn nicht lebendig wirkende geschickt? Stattdessen im üblichen Happy-Go-Lucky-Style Dressman-Ästhetik, als wären sie allesamt vor dem Auftritt entmannt worden. Pseudoviril, doch auf den vorderen Plätzen landend.

25. Bulgarien: Kristian Kostov – „Beautiful Mess“. Mann oder Frau – oder doch Mann, dem Bartwuchs fehlt? Ist das nicht einerlei? Schwulster Beitrag des Abends von einem jungen Mann, der tuffig-flockige Haare trägt, in Moskau lebt und eine teuer produzierte Popnummer serviert. Vorderplatz.

26. Frankreich: Alma – „Requiem“. Ihr Lied ist eine Art mittleres Uptempo-Ding, als sei’s ein Werk von Stromae. Die Sängerin aus Lyon überzeugt mit feinen, kleinen Bewegungen. Die richtigen Akkorde zu Emmanuel Macron, ein gesungenes Mahnmal gegen Marine Le Pen. Nicht favorisiert, eher gehobenes Mittelfeld.

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