Film „Under the Tree“: Ein Baum und ein Nachbarschaftsstreit

Das Drama „Under the Tree“ zerlegt eine Vorortidylle in Island: Neben Trollen und Elfen lauern auch gewaltige Probleme.

Zwei Männer stehen sich an einer Tür gegenüber. Einer hält einen offenbar ausgestopten Hund im Arm

Teuflischer Druck: In Wahrheit geht es um etwas anderes als Baumschatten und Gekränktsein Foto: Netop Films

Vor zwanzig Jahren gab es diese Geschichte mit dem Maschendrahtzaun und dem Knallerbsenstrauch, bei der Stefan Raab viel Geld verdiente und die Nation vereint über den gesächselten Nachbarschaftsstreit kicherte. Die Knallerbse wurde irgendwann gefällt, das kollektive Kichern hörte irgendwann auf.

Ein Nachbarschaftsstreit kann aber auch ausarten, zu einer echten Katastrophe werden. Wie in „Under the Tree“: Hafsteinn Gunnar Sigurðssons Drama beginnt mit einem Baum, der eine Vorortidylle nahe Reykjavík überschattet. Im wahrsten Wortsinn – der große, alte Baum, der seit Jahrzehnten im Vorgarten des pensionierten Ehepaars Inga (Edda Björgvinsdóttir) und Baldvin (Sigurður Sigurjónsson) wächst, spendet im Sommer Schatten.

Doch dieser Schatten fällt auch auf das Nachbargrundstück – und auf Eybjorg (Selma Björnsdóttir), die neue, jüngere Frau von Konrad (Þorsteinn Bachmann), die sich nach ihrem täglichen Fitness-Cycling-Ritual dort sonnt. Wieso beschneiden sie den Baum nicht ein bisschen, zischen Eybjorg und Konrad. Wieso legt sich die Radfahrschlampe nicht einfach woanders hin, giftet Inga zurück.

Ingas und Baldvins Sohn Atli (Steinþór Hróar Steinþórsson) schiebt währenddessen seinen ganz eigenen Frust: Seine Frau Agnes überraschte ihn kurz zuvor dabei, wie er zu einem Sexvideo mit seiner Exfreundin masturbierte. Agnes schmeißt Atli hinaus und will ihm die gemeinsame Tochter vorenthalten. So sieht sich der verdrießliche Atli gezwungen, vorübergehend zu seinen Eltern zu ziehen – und damit mitten hinein in das Feuer des mehr und mehr auflodernden Baumstreits.

Zwischen Brutalität und bizarrer Komik

Zunächst unmerklich, verdüstert sich die Stimmung in Sigurðssons Tragödie, von der man anfangs vor allem ihre Skurrilität wahrnimmt, ab einem gewissen Punkt rapide. Der Himmel zieht sich zu, der Baum nimmt immer mehr Licht weg, die (echten und subtilen) Schläge werden gewalttätiger, die Verletzungen tiefer. Dass es in Wahrheit um etwas anderes geht als um Baumschatten und Gekränktsein, sickert zunehmend in das Bewusstsein des Publikums: Etwas war mit Atlis abwesenden älteren Bruder Uggi, den seine Mutter ab und an erwähnt, etwas Furchtbares, etwas, was der gesamten Familie nachhängt. Und es scheint auch mehr in Atlis Beziehung schiefzulaufen als die verzeihbare Geschmacklosigkeit, sich beim Masturbieren zu einer Ex erwischen zu lassen – Agnes’ vermeintliche Überreaktion bekommt so nach und nach Gestalt.

Der teuflische Druck steckt beim Psychogramm „Under the Tree“, das im letzten Jahr bei den Filmfestspielen in Venedig prämierte, im Detail – wie Atli permanent an der E-Zigarette nuckelt, bis er schließlich wieder auf echte, qualmende Lungenputzer zurückgreift; wie er mit seiner kleinen Tochter trotzig auf der ungastlichen Wiese vor der IKEA-Filiale campiert, nur um etwas Zeit mit ihr zu verbringen; wie Konrad seine „Trophy Wife“ verteidigt, ohne ernsthaft zu verstehen, was sie umtreibt; wie Baldvins Verzweiflung wächst.

Denn eigentlich ist „Under the Tree“ bis ins Mark sinister, und Hafsteinn Gunnar Sigurðssons Blick auf die Welt ist es ebenso

Die größte innere Verletzung wird jedoch bei der verhärmten Inga sichtbar, deren dauerhaft rotweinverfärbte Lippen von Anfang an Böses ahnen lassen und blutige Assoziationen auslösen: Im Gegensatz zu ihrem Mann Baldvin, der sich im Stressfall gern zur Männerchorprobe verabschiedet, um bei den dortigen wehmütigen Weisen etwas Erholung zu finden, steht der beherrschten, grauhaarigen Inga das Trauma deutlich ins Gesicht geschrieben. Als schließlich Ingas und Baldvins geliebte Katze verschwindet, ist die Eskalation unvermeidbar. Sie beginnt mit einer unfassbaren Tat Ingas, die sich irgendwo zwischen Brutalität und bizarrer Komik ansiedelt.

Und dennoch werden es am Ende die Männer sein, die auf die eine oder andere Weise auf der Strecke bleiben – vor allem sie zeichnet Sigurðsson als unselige Knallköpfe, deren Trieb nicht mit ihrem Harmoniebedürfnis und schon gar nicht mit ihrem Verteidigungswillen zusammengeht. Sie stecken, so scheint es, in Rollenklischees fest, die längst überwunden schienen. Dazu tauchen im Film ganz unterschiedliche skandinavisch-freigeistige Typen auf: Dass im Kindergarten von Atlis Tochter ein bezopfter männlicher Erzieher dem so erzürnten wie gehörnten Vater entgegentritt, ist genauso selbstverständlich wie der höhere gesellschaftliche und finanzielle Status von Atlis Exfreundin, die ihn auch als Rechtsanwältin vertritt.

Der Abgrund hinter archetypischen Haus­be­wohner*innen

Der isländische Regisseur ­Sigurðsson hat mit „Under the Tree“ seinen dritten Langfilm inszeniert. Für „Prince Avalanche“, eine US-Neuverfilmung seines eigenen Debüts „Either Way“, schrieb er 2013 gemeinsam mit dem US-Regisseur David Gordon Green das Drehbuch. Bei seinen früheren Werken hat er gagorientiert gedacht, verzweifelte Männer in absurde Situationen gebracht, die richtige Portion Lakonie dazugegeben und klassische Humornarrative konstruiert.

Sein neuer Film ist dagegen nur als Komödie verkleidet – die grotesken Hüllen und Situationen hat er sich übergeworfen wie ein Kostüm. Denn eigentlich ist „Under the Tree“ bis ins Mark sinister, und Sigurðssons Blick auf die Welt ist es ebenso. Die Verzweiflung in diesem Drama reicht tief hinein in die punktgenaue, reduzierte und immer wieder mit dem Filmsound verschmelzende Musik von Daniel Bjarnason, genau wie in die melancholisch über das Grün schwebende Kamera von Monika Lenczewska.

„Under the Tree“. Regie: Hafsteinn Gunnar Sigurðsson. Mit Steintór Hróar Steintórsson, Edda Björgvinsdóttir, Sigurður Sigurjónsson, Lára Jóhanna Jónsdoóttir. Island/Dänemark/Polen/Deutschland 2017, 89 Min.

In seinem Land gebe es sehr wenige Bäume, sagte der Regisseur im letzten Jahr in einem Interview, darum würden die Menschen wirklich oft emotionale Bindungen zu ihnen entwickeln und sich um sie streiten. Dazu kämen die kurzen Sommer und das Ringen um jeden Sonnenstrahl.

Doch der Zankapfelbaum ist nur ein Vorwand. Denn die Vorortidylle irgendwo in Island, wo es wegen der geringen Bevölkerungsdichte reicht, den Nachnamen Bezug auf die Mutter oder den Vater nehmen zu lassen; wo man angeblich mit ­Elfen und Trollen lebt; wo man entspannt von Geysir zu ­Geysir hüpft – sie ist keine. Und wie ­abgründig der Schlund tat­sächlich ist, der hinter den Lügen, Verdrängungsmechanismen und Gemeinheiten der archetypisch verzweifelten Haus­be­wohner*innen lauert, das kann einem echt Angst ­machen.

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