Europäische Kulturhauptstadt 2019: Uralte Höhlen zu schicken Hotels

Touristen strömen dieses Jahr in die Kulturhauptstadt Matera. Ringsherum, in der italienische Region Basilikata, merkt den Aufschwung keiner.

Matera in der Basilikata

Matera in der süditaliensichen Basilikata Foto: Lorenzo de Simone

Es war ein großer Tag. Etwa ein Dutzend Blas- und Marschkapellen aus Italien und Europa stiegen die steinernen Treppen von Matera hoch und runter und spielten dabei auf zum Fest. Denn seit diesem Tag im Januar ist der Ort mit der Höhlensiedlung offiziell Kulturhauptstadt Europas und teilt sich diese Ehre mit Plovdiv in Bulgarien. Die Festlichkeiten wurden durch Staatspräsident Sergio Matarella eröffnet. Während er sprach, sah man im Hintergrund die rot-weißen Klebebänder einer offenen Baustelle im Wind flattern. Das Open-Air-Theater für große Anlässe – wo im September Brian Eno erwartet wird – war noch in Arbeit, ebenfalls die neue Zug­trasse vom Flughafen Bari nach Matera.

Aber das trübt die gute Stimmung nicht. Die erste große Besucherwelle wird für Ostern erwartet und bis dahin soll alles längst fertig sein. Die Zugtrasse allerdings erst im Sommer. Trotz aller Unbill ist das Programm eröffnet und unter dem Motto „Open Future“ verspricht es viel: 82 Events, 170 Künstler und vier große Ausstellungen. „Wir arbeiten seit über vier Jahren für dieses Ereignis“, erklärt Salvatore Adduce, ehemaliger Bürgermeister und Präsident der Stiftung Matera Basilikata. Es soll in diesem Jahr kein Tag vergehen, an dem keine Kulturveranstaltung stattfindet.

Denn die Welt feiert einen Ort, der so alt ist wie die Menschheit. Die Höhlensiedlungen, genannt „Sassi“ (Steine), existieren seit der Steinzeit. Sie hängen wie Bienenwaben am Hang und sind eins mit dem Berggestein – dem hellgelben Kalk, in den sie geschlagen wurden. Die Räume, Wände, Treppen und Verbindungswege sind ein architektonisches Meisterwerk.

Bis in die 1960er Jahre lebten die Materaner hier, mit ihren Kindern und ihren Tieren, ohne Fenster und ohne Klos. In den 50ern lag die Kindersterblichkeit in den Felswohnungen bei 42 Prozent. Aufgrund dieses Missstands erklärte die damalige christdemokratische Regierung die Sassi kurzerhand zur „nationalen Schande“. Die 15.000 Bewohner wurden in neue Mietshäuser am Stadtrand umgesiedelt.

Weltkulturerbe Matera

„Damals ging es nicht nur um die schlechten Lebensbedingungen in den Höhlenwohnungen, sondern auch um die Aufwertung von Bauland und die Ankurbelung der Immobilienwirtschaft“, erklärt Pietro Laureano. Keiner weiß über die Sassi besser Bescheid als er. Als Architekt und Unesco-Experte für Höhlenstädte war er maßgeblich daran beteiligt, dass Matera 1993 zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Außerdem kennt er auch das Leben in den Sassi, denn er und seine Familie haben es selbst zehn Jahre lang ausprobiert.

„Mein Sohn ist in einer Höhlenwohnung geboren und er hat sich hier wohlgefühlt“, sagt Laureano. Und auch, dass sowohl die Kanalisation als auch die Belüftung in den Sassi perfekt funktioniere, wenn diese nicht überfüllt seien. Genau dies sei aber in den Nachkriegsjahren der Fall gewesen. „Die ungesunden Lebensverhältnisse wurden vor allem durch die viel zu hohe Bewohnerzahl verursacht“, erklärt er.

Der Architekt ist auch Kurator einer der vier großen Ausstellungen des Veranstaltungsprogramms. Der Titel lautet „Ars Excavandi“. Das Thema sind Praktiken der Ausgrabungen, das Leben im Bauch der Erde und dessen Bedeutug als Kulturmodell. Laureano glaubt, dass von dieser Erdzivilisation ein Impuls für Europa ausgehen kann. Er betont, dass das Leben in der Felssiedlung von Matera stark auf die Gemeinschaft ausgerichtet war. Die Frauen kochten und wuschen in den Gemeinschaftsräumen.

Das isolierte Leben dieses Landstrichs beschrieb Carlo Levi 1945 in seinem Roman „Christus kam nur bis Eboli“

Abends saß man vor den Hauseingängen zusammen. In den letzten Jahren waren es aber nur noch die ärmsten Familien des Ortes, die dort wohnten. Die Männer zogen morgens mit ihren Pferden und Eseln auf die kilometerweit entfernten Getreidefelder. Das isolierte und entbehrungsreiche Leben dieses Landstrichs beschrieb Carlo Levi 1945 in seinem autobiografischen Roman „Christus kam nur bis Eboli“ über einen intellektuellen Großstädter, der während des Faschismus in diese archaischen Welt verbannt wird.

Die fotogenen steinernen Gassen

Die Szenen der späteren Buch­verfilmung spielen ausschließlich in den steinernen Gassen Materas. Im Museum für mittelalterliche und moderne Kunst, eingerichtet im Palazzo Lanfranchi im barocken Teil des Stadtzentrums, hängt ein enormes Wandgemälde von Levi, das er unter dem Titel „Lucania 61“ den Bewohnern Materas gewidmet hat.

Carlo Levi zog weitere Intellektuelle und Regisseure in die Höhlenstadt nach. Pier Paolo Pasolini drehte hier „Das Evangelium nach Matthäus“ und Mel Gibson „Die Passion Christi“. Vielfach gerühmt als „Jerusalem Europas“, ist die heutige Provinzhauptstadt perfekte Kulisse für Bibel- und Sandalenfilme. Vor ein paar Jahren jagte auch ein neuer „Ben Hur“ durch die Schlucht der Steinsiedlungen.

In Matera leben heute rund 60.000 Menschen. Die Stadt breitet sich auf einer enormen Fläche aus und zieht sich am Stadtrand, nach den Wohnblocks der 1960er und späteren Jahre, noch weit ins Umland hinein. Der Tourismus konzentriert sich aber vor allem auf die Höhlen und die in den Kalkstein geschlagenen Kirchen, die in den letzten Jahren gereinigt und restauriert wurden.

Die Besucher haben sich in den vergangenen Jahren verdoppelt, dieses Jahr wird mit 800.000 Übernachtungen gerechnet. 2009 standen 1.000 Betten für Besucher bereit, heute sind es fünfmal so viele. In den Grotten wurden Designerbäder, Luxusschlafzimmer und Restaurants aller Art eingerichtet. Es ist ohne Frage ein Logieren der besonderen Art, das beweist auch die Nachfrage.

Allein auf der Website der digitalen Zimmervermittlung Airbnb gibt es für Matera über 300 Angebote. Einige Politiker – wie Ministerpräsident Giuseppe Conte – preisen diese Form des Kulturtourismus schon als „neues Entwicklungsmodell für den Süden“.

Entwicklung ohne Ausstrahlung

Dies aus der Perspektive, dass ältere Entwicklungsmodelle wie die Industrialisierung durch Großunternehmen kläglich gescheitert sind. Am Ende blieben nur die „Kathedralen in der Wüste“ stehen: verlassene Produktionsanlagen ohne Anbindung an Verkehrsadern und Wohnorte. Auch beim Kulturprojekt Matera bleiben die Infrastrukturen, die allen Bewohnern der Region zugute kommen würden, auf der Strecke.

Investitionen in Zugverbindungen sind in den rund 50 Millionen Euro, die die Steuerzahler der EU für jede Kulturhauptstadt aufbringen, nicht vorgesehen. Nur wenige Matera-Touristen besuchen auch andere Gegenden der Region Basilikata, die in der Antike Lukanien hieß. Rund drei Viertel der Buchungen entfallen auf die Provinz Matera.

„Wir merken hier nichts vom Besucherboom“, sagt Maria Chia­rella, die in Venosa lebt, nur eine Autostunde von Matera entfernt. Hier gibt es eine Kathedrale und eine mittelalterliche Abtei zu besichtigen. Der Rotwein der Gegend, der Aglianico delle Vulture, gehört zu den besten Tropfen Italiens. Aber vom Tourismus können hier nur wenige leben und auch sonst gibt es kaum Jobs. In Venosa sieht es aus wie anderswo. In der Region sind fast 40 Prozent der Frauen und der Jugendlichen arbeitslos.

Chinesische Konkurrenz zerstört Genossenschaft

Chiarella hat bis vor zehn Jahren noch an die Industrialisierung geglaubt. Gemeinsam mit zehn anderen Frauen gründete sie in den 80er Jahren im Nachbarort Lavello eine Genossenschaft, die BHs fertigte. Andere kleine Dessous-Fabriken folgten und hielten sich erfolgreich auf dem Markt.

Auch damals sprachen Ökonomen von einem neuen Entwicklungsmodell: einem industriellen ­Distrikt, der auf kleine und flexible Unternehmen setzt, die sich auf ein bestimmtes Produkt spezialisieren und sich vernetzen, um Marketing oder Export gemeinsam zu organisieren. Das hat einige Jahre funktioniert, bis die italienischen Minifabriken der chinesischen Billigkonkurrenz nicht mehr standhalten konnten.

„Die Banken haben uns Kleinen keinen Kredit für neue Investitionen gegeben. Das war das Ende“, erzählt Chiarella. Die Frauen sind heute arbeitslos. Mit der Schließung ihrer kleinen Fabrik ging auch ihr gesamtes professionelles Know-how verloren: vom Nähen eines BH-Körbchens bis hin zur Geschäftsführung. Von allem ist ihnen für die Zukunft nichts geblieben und auch nicht der lokalen Wirtschaft. Die ehemaligen Fabrikhallen stehen leer. Die Realität der geschäftigen Kulturhauptstadt scheint Lichtjahre entfernt zu sein.

Tourismus bringt Arbeit

Dennoch geht es auch in Matera darum, was nach dem Fest bleibt. Der Tourismus schafft Beschäftigung. Darauf hoffen alle. Und auch, dass künftig weniger junge Leute in den Norden oder ins europäische Ausland abwandern. Oder dass manche sogar zurückkehren – wie Marco Laterza, ein junger Architekt und Designer, den es nach Spanien und Frankreich verschlagen hatte.

Er hat sich 2016 bei einer Ausschreibung für die Open Design School der Kulturhauptstadt beworben – und kam zurück. Jetzt ist er Koordinator des Projekts. Laterza und sein junges Team, zu dem auch interessierte Stadtbewohner gehören, entwerfen mobile Sitzgelegenheiten, zusammenklappbare Holzgerüste für Events und Solarbeleuchtung für die Festlichkeiten. Dank der Designschule sind auch zwei andere „materani“ zurückgekehrt.

„Früher fühlten wir uns hier isoliert“, erzählt Laterza. Jetzt kommen Künstler aus der ganzen Welt nach Matera und alles hat sich geändert. Oder doch nicht? Wird 2020 wieder alles, wie es vorher war? „Nein, unsere Schule soll bleiben. Wir möchten lokale Kunden finden und Nachwuchs ausbilden“, sagt er. Ob es klappt, weiß er noch nicht. Aber vorerst haben er und sein Team alle Hände voll zu tun.

Die Bewohner sollen mit 5.000 Bag Lights ausgestattet werden, die sie bei den Events herumtragen können. Die Lichter werden in den Werkstätten der Designschule gefertigt. Die Form der Taschen, die sich im Dunkeln in der Stadt bewegen sollen, erinnert an die Tropfensymbole von Google Maps. Social Light nennt sich das Projekt. Denn schließlich lebt auch in Matera niemand mehr in der Steinzeit.

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