Essay zu Urbanität und Verkehr: Schönheit stillgelegter Autos

Der autofreie Sonntag, Mensch, war der schön! Es waren die Siebziger. Heute sind unsere Städte utopielos geworden.

Ein Sonntag in Deutschland in den 1970ern: Leere Autobahnen so weit man gucken kann Bild: ap

Über die Demowut der Berliner haben sich Autofahrer schon oft geärgert. Berlin ist Welthauptstadt, was die Anzahl von Demonstrationen angeht. Im Schnitt gehen die Bürger hier 250 Mal pro Jahr auf die Straße – so oft wie sonst nirgends.

Früher in den Siebzigern und Achtzigern waren es noch mehr Trupps, die mit Flugis, Transpis oder Lautis an einem vorbeizogen. Ich bin in Westberlin geboren und aufgewachsen. Irgendwo war immer eine Straße oder gleich ein halber Bezirk abgesperrt.

Sie ist Schriftstellerin, wurde 1968 in Berlin geboren, wo sie auch heute noch lebt. In ihrem jüngsten Buch „Katzenaugen-grüne Trauben - Blitzer-Glitzer-Geistergrün“ geht es um die Farbe Grün (Hanser 2015).

Die Alternative Liste (AL) im Berlin der frühen Achtziger legte gleich mal ein Konzept für ein „autofreies Berlin“ vor. Damals hatte Politik noch etwas mit dem Entwerfen von Utopien zu tun, und es wurde nicht nur von Sachzwängen und Alternativlosigkeit geredet.

Ich habe viele Demos in Berlin erlebt – mal als Beteiligte, mal als verträumt Am-Fenster-Lehnende in einer meiner verschiedenen Wohnungen in Wilmersdorf, Kreuzberg, Neukölln. Auch eine Reihe großer öffentlicher Ereignisse wie 1995 die Reichstagsverhüllung und die Räumungen der besetzten Häuser in der Mainzer Straße 1990, die dramatisch waren, sind mir in Erinnerung, ganz zu schweigen vom alles in den Schatten stellenden Ereignis des Mauerfalls. 

Spazieren auf der AVUS

Dennoch: Die autofreien Sonntage im Jahr 1973 haben ganz besonderen Eindruck hinterlassen. Anlass für die ungewöhnliche Sparmaßnahme war die damalige Ölkrise. Die sozialliberale Regierung Willy Brandts hatte mit dem Energiesicherungsgesetz vom 9. November 1973 vier autofreie Sonntage sowie Tempolimits beschlossen.

Plötzlich konnten wir Westberliner auf die Avus gehen, auf die Heerstraße, überall dorthin, wo Fußgänger sonst wie Kriminelle behandelt wurden. Wie breit viele Straßen waren! Wie viel Platz den Autos zur Verfügung stand!

Wir flanierten, prominierten, stolzierten. Der Blick auf die kontrastreiche Architektur Berlins war anders, keiner lief geduckt unter Balkonen und Simsen entlang, sondern jeder blickte mit gemessenem Abstand auf die Fassaden oder schaute in den Himmel. Die temporäre Rückeroberung des Raumes fühlte sich fremdartig, neu und verdammt gut an. Auch wenn es nur wenige Stunden waren, das Lebensgefühl war anders.

Wir begriffen, dass die Stadtplaner den Fußgängern im Vergleich zu den Autofahrern längst eine sekundierende Rolle zugewiesen hatten. Die Bürgersteige flankieren die Straßen in einer Geste der Demut, die Mitte, das Zentrum gehört den Autos, die Menschen weichen an den Rand für sie. Und auch auf dem standen noch oft genug Pkws herum. 

Viel Platz für Autos, wenig für Menschen - ein Jogger auf dem Mittelstreifen Bild: dpa

Wunsch nach einem Leben

Dabei sind die dem Verkehr geschuldeten Infrastrukturen, die wir heute für geradezu naturgegeben halten, nicht einmal hundert Jahre alt. 1924 leuchtete am Potsdamer Platz in Berlin die erste Ampel Europas, den ersten Zebrastreifen gab es 1952.

Am letzten der vier „autofreien Sonntage“ kam es auf den Straßen Berlins wieder zu Staus, so viele Ausnahmen waren derweil genehmigt worden. Aber sie hatten in mir den Wunsch nach einem anderen Leben aufkommen lassen. Dabei liebte ich die Großstadt, das Treiben der vielen Menschen, ins Dorf zog es mich nicht.

Meine ersten „literarischen Texte“ – wenn man diese seltsamen Skizzen so nennen kann –, die ich verfasste, waren „Personenstudien“ in der U-Bahn. Ich fuhr hin und zurück, beobachtete Leute, überlegte mir: Wie könnten sie heißen? Wie sieht ihre Wohnung aus? Sammeln sie irgendetwas? Haben sie eine Macke? Und so weiter.

Doch spätestens als ich ein radfahrbegeisterter Teenager mit erst hellblond, dann schwarz gefärbten Haaren wurde, störte es mich, wie sehr wir unsere nahe und ferne Umgebung zum Beiwerk von Auto und Verkehr gemacht hatten. Unsere Städte sind utopielos geworden. Das Leben in ihnen ist um den Autoverkehr herum organisiert. Straßen, Kreuzungen, Parkplätze sind neben Gebäuden die zentralen Elemente. Es fehlt der nicht zweckgebundene, nicht auf Mobilität ausgerichtete Raum. Setzt sich eine Bürgerinitiative für einen Park ein, kann es gut sein, dass sie misstrauisch beäugt wird, es könnten ja Parkplätze fehlen. Lärm- und Feinstaubbelästigung, eingeschränkte Bewegungsfreiheit für Kinder, Verkehrstote – all das nimmt die Gesellschaft in Kauf.

Vom Autofahrer übersehen

Aber bevor ich all diese Gedanken hegen und aufschreiben konnte, hatte ich erst noch ein richtig mieses Erlebnis mit einem Auto. Den Einzelnen erschüttert solch ein Erlebnis, aber die Allgemeinheit nimmt jedes Jahr gut dreieinhalbtausend Verkehrstote hin. Von den Verletzten ganz zu schweigen. In der Zeit, in der ich ein Kind war, starben dreizehntausend Menschen jährlich in Deutschland bei einem Verkehrsunfall. Überlebt habe ich zum Glück.

Ich war sieben Jahre alt und ging einmal die Woche am Abend zu Fuß zum Blockflötenunterricht in meiner Schule. An einem Donnerstagabend kam ich jedoch nicht an. Statt Telemann-Sonaten zu spielen, fand ich mich im Krankenhaus wieder, ich war einige Zeit bewusstlos gewesen. Ein Autofahrer hatte mich nicht gesehen, als ich zwischen parkenden Autos auf die Straße getreten war. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich keine Erinnerung an den gesamten Tag. Nur ein Bild hatte ich noch im Kopf: das Bild einer Mercedes-Kühlerhaube auf der Höhe meines Gesichts.

Der Mercedes war von einem satten Grün gewesen. Später, in der Gerichtsverhandlung, stellte sich heraus, dass meine isolierte Erinnerung richtig gewesen war. Der Fahrer wurde für schuldig befunden und zu einer Geldstraße verurteilt. Mein Vater hatte mich damals ins Gericht begleitet und meine Hand gehalten. Autos sind ihm mindestens so ungeheuer wie mir. Er hat – sehr ungewöhnlich für seine Generation – nie einen Führerschein gemacht.

Sicher weil autofrei unterwegs sein können, nur eine schöne Utopie? Bild: dpa

Im Krankenhaus war es nach dem ersten Schreck gar nicht so übel: Die Klasse besuchte mich, und ich bekam das „Schlumpfhaus“ von den Mitschülern geschenkt. Das Schlumpfhaus war ein Fliegenpilz mit Tür und Fenster im Stamm. Mir gefiel die Welt der Schlümpfe: Wohnen in Pilzen, die Wiese als Spielplatz, jede Menge Spaß. Autos und andere Probleme schien es nicht zu geben. Der nette bewohnbare Fliegenpilz blieb für mich auch später immer noch ein Symbol für ein anderes Leben. Doch hat sich seit den autofreien Sonntagen äußerst wenig getan.

Kein Tempolimit. Mehr Autos. Das liegt nicht in erster Linie an der Wende, als Millionen von Ostdeutschen ihren Trabant auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen haben. 1950 gab es zwei Millionen motorisierte Fahrzeuge in Gesamtdeutschland, 1970 waren es zweiundzwanzig, heute sind es fünfzig Millionen.

Der vielleicht dümmste Zukunftsentwurf

Die Bundesregierung steuert nicht gegen. Sie hat gerade erst beschlossen, bis 2030 mehr als hundertzweiunddreißig Milliarden Euro in Autobahnen und Bundesstraßen zu investieren. Das sind rund neuneinhalb Milliarden Euro pro Jahr. Wie sich dieser Ausbau der Verkehrswege mit den hehren CO2-Zielen, die die Regierung gleichzeitig hegt, vereinbaren lässt, bleibt offen.

Dabei ist Deutschland schon eines der Länder mit dem dichtesten Straßennetz weltweit. Zudem wollen Industrie und Regierung den Verkauf von Elektroautos mit 4.000 Euro pro Auto fördern. Der Sozialwissenschaftler Harald Welzer bezeichnet das Elektroauto als „vielleicht dümmsten Zukunftsentwurf“, der den begrenzten Horizont einer Gesellschaft verkörpere, deren utopisches Credo laute: „Wie jetzt, nur besser.“

Dabei sei „das Problem nicht ein spezifischer Typ von Antrieb zur Verwirklichung von Mobilitätsvorstellungen, sondern das Konzept von Mobilität, dem die Bewohner moderner Gesellschaften huldigen. Nicht nur sie selbst halten es für sinnvoll und normal, ausgerechnet in Zeiten ungeahnter und weltumspannender Kommunikationsmöglichkeiten pausenlos unterwegs zu sein, sondern schicken auch die Waren und Güter, die sie zu benötigen glauben, auf so unendliche Reisen, dass ein Apfel schon zehntausend Kilometer Politik zurückgelegt haben kann, bevor er gegessen oder in der Tonne für Ökoabfälle entsorgt wird.“

Utopie wird als Verlängerung der Gegenwart mit ähnlichen, aber optimierten Mitteln gedacht, nicht als grundsätzlich Neues. Wie sollen Städte aussehen? Sollen Verkehrswege das zentrale ästhetische Gestaltungsmerkmal sein? Wie viel Mobilität muss sein? Ist es zu akzeptieren, dass jeder Deutsche mindestens einen Menschen persönlich kennt, der im Straßenverkehr getötet oder schwer verletzt wurde? Diese Fragen werden nicht gestellt.

Bahncard 100 statt Dienstwagen

Die Schriftstellerin und Publizistin Karen Duve schrieb in diesem Magazin, dass sie früher noch optimistisch geglaubt hätte, der „konsumierende Bürger hätte es in der Hand, durch Selbsteinschränkung und das Eindrehen von Sparlämpchen Umweltkatastrophen zu verhindern“. Inzwischen sieht Duve eher die Politik in der Pflicht, „Konzernen verbindliche Standards vorzuschreiben“.

Sind zum Beispiel knapp fünf Millionen Dienstwagen in Deutschland notwendig? Autohersteller mögen sich über die Zahl freuen. Firmen kaufen Neuwagen, anstatt ihren Mitarbeitern gute Fahrräder zu kaufen oder die Bahncard 100 auszugeben. Ob sich das ändern lässt? Für junge Erwachsene, das zeigt die aktuelle Sinus-Jugendstudie, verliert das Statussymbol Auto an Bedeutung.

Zunehmend wieder sehr beliebt bei der jungen Altersgruppe: der öffentliche Nahverkehr Bild: David Knap/flickr (CC_BY_2.0)

Demnach halten sie Busse und Bahnen für „soziale Orte, um Freunde zu treffen“. Nur in ländlichen Gebieten gehört das Auto noch zum Erwachsenwerden dazu. Früher versprachen Führerschein und Auto Freiheit. Heute spricht da eher eine pragmatische als eine autophile Generation, die ihre Unabhängigkeit mit den sozialen Medien und dem Internet erhält.

Auch Ältere denken um. Vor allem die 30- bis 50-Jährigen steigen ein ins Carsharing. Kollektiv genutzte Autos sind auf dem Weg, so selbstverständlich im Straßenbild zu werden wie Taxis oder öffentliche Verkehrsmittel. Es fing 1988 mit dem Statt- Auto in Berlin klein an. Mittlerweile nimmt die Zahl der Carsharer bundesweit jedes Jahr um bis zu zwanzig Prozent zu. Für den Umweltschutz und die Befreiung der Städte vom Auto ist das ein Segen: Ein Carsharing-Fahrzeug ersetzt vier bis acht Pkws.

Staunende BürgerInnen

Noch sind die meisten Städte allerdings meilenweit entfernt von einer neuen Verkehrs- und Raumplanung, selbst wenn es Bürgerinitiativen gibt, die etwa Spielstraßen fordern. So wird es wohl noch eine Generation dauern, bis das kapitalistische Credo „Höher, weiter, schneller!“ einer neuen Idee von Mobilität und Tempo weicht, die in der Stadt sichtbar wird.

Aber die BürgerInnen werden dann staunen über mein Staunen an den autofreien Sonntagen der Siebzigerjahre und denken: Ist doch normal, dass die Straße den Fußgängern, den Spielenden und den Faulenzern gehört.

Das Essay von Tanja Dückers ist erschienen in zeozwei 3/16. Gerne können Sie den Artikel auf unserer Facebook-Seite diskutieren.