Essay von Oliver Nachtwey: Auf Beton bist du nichts

In seinem Buch „Die Abstiegsgesellschaft“ zeichnet Nachtwey ein Bild der Bundesrepublik: Es geht abwärts – aber nicht für alle.

Fließband mit Fahrzeugen in der Autofabrik

Leiharbeiter sind nur Mitarbeiter zweiter Klasse Foto: dpa

Alle paar Monate werden Studien publiziert, die zeigen, dass die Tektonik der Gesellschaft ins Rutschen geraten ist. Die Mittelschicht, so die stetig wiederkehrende Erkenntnis, schrumpft. Dass, wer arm ist, dies auch bleibt, ist 2016 weit wahrscheinlicher, als es noch vor 40 Jahren war. Auch die Kinder der Ärmeren haben weniger Chancen aufzusteigen als früher. Die Bundesrepublik verändert sich, aber es gibt dafür keinen rechten Begriff.

Oliver Nachtwey hat über diese Lage einen soziologischen Essay verfasst, der zwei erfreuliche Haltungen verbindet: Er betrachtet dieses Phänomen aus linker Perspektive, hantiert unbefangen mit Kategorien Klasse und Kapitalismus und sympathisiert mit egalitären Modellen. Allerdings verzichtet „Die Abstiegsgesellschaft“ auf marktschreierischen Alarmismus, auf die Rhetorik des „immer mehr“ und „immer schlimmer“.

Denn zu dem facettenreichen Bild gehört, dass bei der „beruflichen Mobilität immer noch deutlich mehr Auf- als Abstiege zu verzeichnen sind“, so Nachtwey. Außerdem gibt es nicht nur die Schattenseiten der Dienstleistungsgesellschaft, wie das sozial abgehängte untere Fünftel, das sich kaum Hoffnungen machen kann, aufzusteigen. Zur Marktgesellschaft gehören auch Gewinne an Selbstbestimmung und ein Mehr an Freiräumen, in manchem auch an Egalität.

Oliver Nachtwey: „Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne“. Suhrkamp, 2016, 263 S., 18 Euro

So verdienen Frauen zwar immer noch 20 Prozent weniger als Männer. In der Nachkriegszeit, die im Rückblick oft zur goldenen Phase der Marktwirtschaft veredelt wird, waren es noch bis zu 50 Prozent. Vielen hat das Ende des Normalarbeitsverhältnisses, der tariflich fixierten Nine-to-five-Jobs, neue Möglichkeiten beschert. Die Lage ist, kurzum, so komplex wie die Arbeitsgesellschaft selbst.

Draußen als Einzelner

Als typisch für die Situation mag eine hochmoderne, äußerst flexible arbeitende Autofabrik gelten, die der Autor skizziert. Die Arbeiter dort werden gut und übertariflich bezahlt. Die Fließbänder sind abgeschafft. Der Boden ist aus Holz, und für perfekte Ergonomie sorgen Computer, die das Podest, an dem gearbeitet wird, auf die Körpergröße der Monteure ausrichtet. Doch die Hälfte der dort Beschäftigten zählt nicht zur Stammbelegschaft. Die Leih- und Zeitarbeiter werden schlechter bezahlt und schneller gefeuert. Und ihre Arbeit verrichten sie in der gleichen Fabrik am Fließband auf Betonfußboden.

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Diese Spaltung in Innen und Außen, die André Gorz schon Mitte der 80er Jahre als Zukunft des Kapitalismus beschrieb, lässt sich als Metapher für die Situation insgesamt lesen. Es gibt viele, die in diesem System gut leben – und jene, die in den Outsourcing-Betrieben schuften und sich auf Betonfußböden von einem prekären Job zum nächsten hangeln. Die drinnen sind gut organisiert, die flüchtigen Existenzen draußen, die gegen Ungerechtigkeit protestieren müssten, nicht. Wer in der Outsourcing-Peripherie jobbt, strebt nach einem festen Arbeitsplatz mit Holzfußboden – und empfindet sich selbst kaum als Teil einer sozialen Gruppe, die um ihre Inter­essen kämpft.

Halt einfach verloren

Das Versprechen der sozialen Moderne, dass es für alle nach oben geht, liegt in Asche, in Europa mehr als in der Bundesrepublik. Die Devise heißt nicht mehr Aufstieg für fast alle, sondern: Es gibt Gewinner und Verlierer. Das ist im Kapitalismus nicht neu. Womöglich war die soziale Moderne im Westen, mit prächtigen Wachstumsraten und gedeihendem Sozialstaat, die historische Ausnahme.

Neu ist allerdings, dass die Verlierer ihr Schicksal nur als individuelles Versagen deuten können. „Die Sozialfigur des Arbeiters taugt nicht mehr zu einer positiven Selbstbeschreibung. Als Arbeiter gilt man vielmehr als abgehängt, als jemand, der es nicht geschafft hat“, so Nachtwey. Die Netze des Kollektivs sind weitgehend zerrissen.

Die neuen Protestbewegungen sind nicht zufällig lose gestrickt. Ihnen haftet von Occupy bis Podemos etwas Flüchtiges an. Sie sind oft individualistisch geprägt und – darin ein Echo der Outsorcing-Jobber – kaum in der Lage, Strategien oder gar Visionen einer anderen Gesellschaft zu entwerfen. Für die neuen Konflikte zwischen drinnen und draußen, so Nachtwey, existiert „noch kein Telos und kein großes Narrativ“.

„Die Abstiegsgesellschaft“ ist keine bahnbrechende Studie, die gänzlich Neues zu Tage fördert. Aber eine kompakte, kluge Reflexion des Stands der Dinge.

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