Erinnerung an Otto Margulies: „Du gingst als Ganzer“

Otto Margulies hat das Behindertenbergsteigen begründet. Er war Arbeitersportler, Burschenschafter, Jude und Weltklassekletterer.

Drei Menschen vor einer Bergwand, schwarz-weiß-Aufnahme

Gesäuser, Hochtor, Rossgruppengrat: Bergsteigen 1935 Foto: Imago / Arkivi

Otto Margulies hatte Humor. „Nur mein Bein ziehe ich noch nicht an“, erläuterte der einbeinige Spitzenkletterer, warum er an einem kalten Morgen seine Prothese nicht anlegen wollte. „Solange das noch in der Ecke steht, werde ich von den Kameraden rücksichtsvoll behandelt, brauche ich nicht Schnee zu holen und Hütte zu kehren! O ja, man hat schon Vorteile!“

Sein Bein hatte Margulies, geboren 1899 in Wien, bei einem Bergunfall verloren, da war er 18 Jahre alt. Genau genommen hatte er es gar nicht beim, sondern nach dem Unfall verloren. Im Oktober 1917 war auf der Rax, einem Bergmassiv in Österreich, abgestürzt. Vermutlich wegen eines Behandlungsfehlers musste sein Bein später amputiert werden.

Der Unfall sorgte dafür, dass aus dem begabten Kletterer Otto Margulies der Begründer des Behindertenbergsteigens wurde. Und zwar noch dazu einer, der auf hohem literarischen Niveau erzählen konnte, etwa von einem Abstieg, den er bewältigt hatte: „Eine vom Wasser durchflossene, ausgewaschene Rinne, glatt wie geschliffener Marmor, gleite ich auf dem von Gott für diesen Zweck geschaffenen Körperteil hinab, lande im Geröll. Noch ein feines Stück über griesbedeckte Platten mäßiger Neigung (leb’ wohl, schöne Kletterhose!).“

Margulies, der sich, als er seinen Unfall erlebte, gerade immatrikuliert hatte, fing erst einmal mit Studien an seinem eigenen Körper an. Als er seine Prothesen so weit präpariert hatte, dass er wieder klettern konnte, bastelte er an ihnen, um auch wieder Skifahren zu können.

Um sein Wissen weiterzugeben, veröffentlichte er 1923/24 einen zweiteiligen Aufsatz „Ueber die Möglichkeiten des invaliden Bergsteigers“. Darin lobte er, mit Prothese seien die Möglichkeiten am Berg „fast unbegrenzt“. Nur richtig müsse man es halt anwenden, etwa so: „Der Kunstfuß ist leicht im Rucksack unterzubringen, das Mitnehmen eines Ersatzfußes für den Fall einer Beschädigung bietet infolge der geringen Dimension der Prothese keine Schwierigkeit.“

Man geht nicht nur mit den Beinen

Margulies weigerte sich schlicht, in seiner Prothese eine Einschränkung zu sehen. „Heute ist die Prothese der gute Fuß“, notierte er in einem Tourenbericht, „sie steht sicher auch auf der kleinsten Rille, während das gesunde Bein infolge der Verletzung an der Ferse ‚auf Schonung‘ geht.“ Und in einem Aufsatz schrieb er: „Ein Fuß nur? Krüppel? – Nein, wieder Mensch! Man geht nicht nur mit den Beinen. Der Kopf geht mit und das Herz, das für die Berge schlägt.“

Stolz vermerkte er, dass „in München allein schon an die zwanzig Armamputierte und ebenso viele Armgelähmte den Skisport betreiben“.

Ein Mann mit Burschenschaftskappe

Otto Margulies Foto: Deutscher Alpenverein

Begründer des Behindertenbergsteigens – allein das wäre schon ausreichend, um an den Mann zu erinnern, der 1925 in der Hochtor-Nordwand tödlich verunglückte. Doch Otto Margulies hatte noch mehr Facetten: Der Sohn eines jüdischen Angestellten wurde Opfer des Antisemitismus, der im Alpinismus früher und brutaler zuschlug als anderswo. Das machte ihn zum engagierten Mitglied der Alpenvereinssektion „Donauland“, die bis heute als „jüdischer Alpenverein“ gilt – dabei war es ein überkonfessioneller Klub, der von vielen Juden und wenigen Nichtjuden gegründet wurde, weil die meisten anderen Sektionen „Arierparagrafen“ hatten.

Umstrittene Alpinistengilde

Seit 1920 war der Wiener Margulies bei der Münchner Alpenvereinssektion „Bayerland“ geklettert. Dass die einen Einbeinigen aufnahmen, war nicht selbstverständlich, denn sie verstanden sich als Elite: Man wolle „sich besonders der Pflege rein alpiner Bestrebungen widmen“, hieß es in einer Selbstdarstellung.

Margulies kletterte also dort mit – und zwar sehr gut: 1920 gelang ihm die Erstbesteigung der Totenköpfl-Südostwand im Gesäusegebirge. Im gleichen Jahr folgte als Erstdurchsteigung die Sommerstein-Nordwand in den Berchtesgadener Alpen, und 1923 bestieg er allein den Dent du Géant im Montblanc-Gebiet.

Was bei den Naturfreunden verpönt war, wurde von einer kleinen Gruppe seit 1919 praktiziert: Eliteklettern, Aufnahme nur nach Nachweis alpinistischer Fähigkeiten.

Doch als bei den „Bayerländern“, wie Anfang der 1920er Jahre bei allen deutsch-österreichischen Alpenvereinen, der Judenhass dominierend wurde – unter anderem war der spätere NS-Kriegsverbrecher Eduard Dietl tonangebendes Mitglied von „Bayerland“ –, verließ Margulies die Sektion. Ob er austrat oder rausflog oder ob er weiter als Mitglied geführt wurde, ist unklar. Kontakte jedenfalls hielt er weiter.

Doch erstaunlicherweise war Otto Margulies nicht nur im bürgerlichen Alpenverein aktiv – auch „Donauland“, wo er sogar Funktionär war, gehörte bis zum Rauswurf 1924 zum Deutschen und Oesterreichischen Alpenverein –, auch bei dessen proletarischer Konkurrenz, dem Touristenverein Die Naturfreunde, engagierte sich Margulies – und zwar in der dort umstrittenen Alpinistengilde. Was bei dem den demokratischen Konzepten der Naturfreunde vom „sozialen Wandern“ eigentlich verpönt war, wurde von einer kleinen Gruppe seit 1919 praktiziert: Eliteklettern, Aufnahme nur nach Nachweis alpinistischer Fähigkeiten.

Die Widersprüche in Margulies’ Leben

Als ob das nicht schon genügen würde an Widersprüchen in einem Leben, war Otto Margulies noch „Leibfuchs“ der Wiener Burschenschaft „Constantia“. Die war deutschnational ausgerichtet, hatte aber, was in dem Milieu nicht selbstverständlich war, nichts gegen jüdische Mitglieder. „Sie gehörte dem ‚BC‘ (Burschen-Convent) an, der sich gegen die damaligen antisemitischen Strömungen mit mehr oder weniger großem Erfolg zu wehren versuchte“, schrieb der Soziologe Roland Girthler. Für ihn war Margulies ein Deutschnationaler „in der Tradition des Jahres 1848“.

Was die Widersprüche in Otto Margulies’ Leben aufhob, waren die Berge, seine Liebe zum Klettern und Bergsteigen. Und die konnte er schön beschreiben: „Nur wenige wissen, wie schön es ist, nach guter Beiwacht dem Morgen im Herzen der Wände in die hellen Augen zu sehen. Einsam auf hohem Balkon der Sonne zuzujubeln, alle Sinne, alles Denken und Fühlen dankbar, überquellend vor Freude.“

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Doch man ließ Margulies einfach nicht auf seinen „Balkon“. 1924 etwa wollte er wegen eines Unwetters im Guttenberghaus im Dachsteingebirge einkehren, das der Sektion „Austria“ gehörte. Doch dort hingen Schilder: „Juden und Mitglieder des Vereins ‚Donauland‘ sind hier nicht erwünscht.“ Das fand sich dort oft, schon Anfang der 20er Jahre.

„Donauland“-Mitglieder als Bergretter abgewiesen

Margulies steckte seinen „Donauland“-Ausweis ein und zückte seine „Bayerland“-Karte. Damit ließ man ihn übernachten, aber zum überhöhten Preis. Beim Weggehen riss er den Zettel ab, der Juden das Übernachten verbot, und nahm ihn mit.

Der Vorsitzende von „Austria“, der anerkannte Bergsteiger und zugleich wüste antisemitische Hetzer Eduard Pichl, warf ihm daher „eine arge Verletzung des Gastrechts“ vor. Margulies beschwerte sich beim Dachverband – erfolglos. Freunde berichteten, diese Demütigung habe ihn zutiefst verletzt.

Im Juni 1925 war Margulies mit drei Freunden in der Hochtor-Nordwand im Gesäusegebirge unterwegs. Ein Wettersturz bewirkte eine Katastrophe. Sie kamen alle um. Später wurde im Vereinsblatt von „Donauland“ empört vermerkt, dass „Donauland“-Mitglieder als Bergretter abgewiesen wurden, „damit man nicht sagen kann, die arische Sektion der ‚Reichensteiner‘ lasse sich bei einer Bergung von Juden helfen“.

Der Krüppel war ein ganzer Kerl

Nach seinem Tod gaben Freunde seine Tourenberichte als Buch heraus. Auch die Nachrufe bezeugten den enormen Respekt, der dem gerade mal 26 Jahre alten Pionier des Behindertenbergsteigens entgegengebracht wurde. „Du warst jung, du humpeltest zwar mit einem Bein, doch du gingst als Ganzer“, hieß es einmal, und seine Burschenschaft schrieb nach seinem Tod: „Dieser Krüppel, der diesem Wort seinen Schrecken nahm, bewies uns, was ein ganzer Kerl ist.“

Erst langsam und seit wenigen Jahren kehrt die Erinnerung an den Mann zurück, der gezeigt hat, dass man zum Bergsteigen nicht unbedingt Füße und Beine braucht. „Anderen wollte ich Wege weisen. Sie sind mir nicht gefolgt. Anderen wollte ich zu meinem Können verhelfen: Meine Mittel waren ein wenig zu stark für sie“, hatte er einmal resigniert geschrieben. „Einer nur, der mir folgen würde – ich wäre zufrieden, meine Aufgabe erfüllt.“

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