Energieversorgung in der Ukraine: Die Angst vor dem Winter

Viele Menschen in der Ukraine denken schon an die kommenden Monate. Sollten die russischen Gaslieferungen ausbleiben, werden sie frieren.

Ukrainische Sodaten kümmern sich um die Schneemassen in Kiew im Winter 2013. Bild: dpa

KIEW ap | Während die ukrainische Wirtschaft in diesem Jahr dramatisch schrumpft, laufen die Geschäfte von Alexej Poleschai blendend. An zwei Standorten in Kiew verkauft er Boiler und Kaminöfen. Die Nachfrage ist hoch, weil die Menschen in der Ukraine befürchten, zum ersten Mal einen Winter ohne russisches Gas überstehen zu müssen. Sie isolieren ihre Wände, versiegeln ihre Fenster und kaufen Decken.

„Die Menschen haben Angst, dass die Gasversorgung ganz abgestellt wird“, erklärt Poleschai. Derzeit verkauft er knapp 15 Mal so viele Warmwasserbereiter wie sonst um diese Jahreszeit. Auch die Verkaufszahlen für Kaminöfen sind in die Höhe geschossen. Die Großhändler, bei denen er die Boiler einkauft, haben die Preise um bis zu 50 Prozent angehoben. „Was dem einen sein Krieg, ist dem anderen sein Profit“, sagt Poleschai zynisch.

Russland stoppte im Juni im Zuge der anhaltenden Krise die Gaslieferungen in die Ukraine. Auslöser war ein Streit um ausstehende Rechnungen, die Kiew nach Ansicht Moskaus bezahlen muss. Während die Regierungen beider Länder noch über eine Notlösung verhandeln, damit zumindest die Gaslieferungen im bevorstehenden Winter gesichert sind, bereiten sich die Menschen in der Ukraine nun auf das Schlimmste vor. Die ukrainische Regierung hat bereits angekündigt, dass die Heizungen nicht wie sonst üblich am 1. Oktober, sondern erst Anfang November eingeschaltet werden. Dann fallen die Temperaturen oft schon unter den Gefrierpunkt.

Für die Landbewohner bedeutet das, sich – wenn nicht schon vorhanden – einen Kaminofen zu kaufen und noch mehr Holz zu fällen. Die Bewohner der Städte haben weniger Möglichkeiten, sich warm zu halten. Sie kaufen Decken und Warmwasserbereiter und versuchen, ihre Wohnungen so gut wie möglich zu isolieren. Die Unterhändler beider Seiten wollen ihre Gespräche wahrscheinlich in dieser Woche in Berlin fortsetzen. Verhandelt wird über ein Gasabkommen, das von der Europäischen Union vorgeschlagen wurde.

Durch Granateinschläge sind am Mittwoch in der ostukrainischen Separatistenhochburg Donezk nach Angaben der Behörden zehn Zivilisten getötet worden. Eine Granate sei nahe einer Schule eingeschlagen, dabei seien vier Menschen getötet und acht weitere verletzt worden, teilte die Kiew-treue Regionalregierung mit. Eine weitere Granate habe einen Kleinbus getroffen, dabei seien sechs weitere Menschen getötet worden. In der Erklärung wurden die Rebellen für die Angriffe verantwortlich gemacht.

Nach der Vereinbarung einer Feuerpause am 5. September hatte sich Kiew am 20. September bei Verhandlungen in Minsk mit den prorussischen Milizen auf einen Neun-Punkte-Plan geeinigt, der eine dauerhafte Waffenruhe und die Einrichtung einer Pufferzone entlang der Frontlinie vorsieht. Zwar gab es Fortschritte beim Rückzug der Truppen beider Seiten aus der geplanten entmilitarisierten Zone, doch gibt es immer wieder Gefechte rund um Donezk. Erst am Montag hatten Militär und Stadtverwaltung den Tod von neun Soldaten und vier Zivilisten seit Sonntag bekanntgegeben. (afp)

„Wer nachgibt, verliert“

Kiew gibt sich hart, auch wenn es bisher rund 60 Prozent seines Erdgases aus Russland bezogen hat. Der Grund: Für Russland steht viel auf dem Spiel. Die Pipelines durch die Ukraine versorgen auch Kunden in Europa. Und wenn die Ukraine erst verzweifelt genug wäre, um illegal Gas für den eigenen Verbrauch abzuzapfen, müsste Russland das entweder ignorieren oder seine Lieferungen an Europa unterbrechen – eine schlechte Option, da Europa der wichtigste Markt für russisches Gas ist. „Wir spielen 'Wer nachgibt, verliert', obwohl die Risiken zu groß sind“, erklärt Andrew Neff, Analyst bei IHS Energy. „Niemand will mit diesem Konflikt in den Winter gehen.“

Die ukrainische Regierung warnt die Bevölkerung bereits vor einem harten Winter. „Es wird nicht leicht werden“, sagte Ministerpräsident Arseni Jazenjuk in einem Interview. „Ich warne Sie direkt, dass es nicht warm wird, aber wir werden nicht frieren.“ Der Bürgermeister von Kiew, Vitali Klitschko, erklärte in der vergangenen Woche, in den Häusern und Wohnungen werde es in diesem Jahr etwa zwei Grad kälter sein als sonst. Warmes Wasser werde seltener zur Verfügung stehen als üblich.

Die Cello-Lehrerin Anna Gontscharowa hat bereits Vorbereitungen getroffen. Sie hat die alten Fenster ersetzt, die Wände ihrer Wohnung gedämmt und einen ganzen Berg Decken gekauft. „Wir hoffen, dass wir nicht frieren werden“, sagt sie. „Ich hoffe wirklich, dass noch eine Einigung mit Russland erzielt wird.“ In der zivilisierten Welt dürfe so etwas eigentlich nicht passieren, sagt Gontscharowa. Jazenjuk erklärte Anfang September, das Land verfüge über Gasreserven in Höhe von 16,7 Kubikmeter.

Die Ukraine wird jedoch etwa doppelt so viel brauchen, um über den Winter zu kommen. Ohne russisches Gas wäre Kiew auf die geringen Liefermengen aus Europa angewiesen. Unter anderem Polen und Ungarn haben Gas, das sie aus Russland bezogen, an die Ukraine weiterverkauft – zum Unmut Moskaus. Einige Länder mussten diese Praxis kürzlich wieder aufgeben, um ihre eigenen Reserven vor dem Winter aufzubauen. Auf Kohle kann die Ukraine derzeit nur schwer zurückgreifen.

Kohlereviere im Osten

Die Kohlereviere liegen im Osten des Landes, wo seit langem die Gefechte zwischen Separatisten und Regierungssoldaten tobten. Kiew musste daher Kohle aus dem Ausland importieren, zum Beispiel aus Südafrika. Die vorgeschlagene Übergangslösung würde bis zum Frühjahrsbeginn gelten. Sie sieht vor, dass Kiew von Russland dringend benötigte fünf Milliarden Kubikmeter Erdgas gegen eine Zahlung von 3,1 Milliarden Dollar bis Ende des Jahres erhält. Die ukrainischen Behörden haben gegen den Preis von umgerechnet 385 Dollar pro 1.000 Kubikmeter protestiert und wollen nur 268 Dollar zahlen.

Neff, der Analyst, ist überzeugt, dass Kiew weiter mit harten Bandagen kämpfen wird. Er verweist darauf, dass der staatliche russische Energiekonzern Gazprom 2009 im Streit mit der Ukraine schon einmal die Gaslieferungen nach Mittel- und Osteuropa unterbrach. Die Folge waren Gewinneinbrüche und ein ebenso schmerzhafter Ansehensverlust im Westen. Wenn keine Einigung erreicht werde, dann werde die Ukraine das Gas eben illegal von den Lieferungen nach Europa abzapfen, erklärt Neff. Die Ukraine habe wenig zu verlieren. Russland habe die Krim bereits annektiert, Separatisten kontrollierten weite Teile der Ostukraine und die Wirtschaft befinde sich im freien Fall. „Die Ukraine hat schon verloren“, sagt Neff. (Laura Mills)

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