Eine Weihnachtsgeschichte mit Schaf: Und alles wegen dir

Was macht man, wenn das liebste Schaf krank zu sein scheint? Alles. Eine Weihnachtsgeschichte über hunderte Autobahnkilometer und tote Kühe im Nebel.

Josh, wie er wirklich aussieht. Bild: Helen Macfarlane

Mein kleiner Josh war schon immer ein besonders liebes Schaf gewesen. Und am Anfang sogar wirklich noch ach so klein: der mickrigste in einem Wurf von dreien, „auf den musste achten, den musste mit der Flasche zufüttern“, sagte der Tierarzt. Das tat ich, und Josh wuchs heran, wurde der größte der Herde, 130 Kilo Gutmütigkeit, eingehüllt in drei Wollpullover. Wenn Besucher ihn kraulen, lehnt er sich bisweilen so kräftig an sie, dass sie umfallen; wenn Kinder kommen, hält er andächtig still. Eine Seele von Schaf, ein Teddybär!

Und so brach mir schier das Herz, als ich letzten Dezember sah, dass mit dem kleinen Josh etwas nicht stimmte. Er trank und trank; nicht wie die anderen Schafe, nicht direkt aus dem Trog, sondern fuhr mit seiner langen Zunge zigmal den Rand entlang. Was konnte das heißen? Diabetes? Nierenversagen? Schließlich rief ich den Experten in der Tierärztlichen Hochschule Hannover an.

Diabetes sei bei Schafen sehr selten. Doch wenn ich ganz sichergehen wolle, sagte man mir, dann müsse ich eine Blutprobe und eine Urinprobe vorbeibringen, gewonnen im Abstand weniger Stunden. Heute noch. Zwei Tage vor Heiligabend war das.

Eine Bekannte von mir geht an den Weihnachtstagen immer mit ihren zahmen Gänsen im Ort spazieren. „Seht ihr, auch so kann man mit Gänsen umgehen, das ist doch viel schöner“, will sie den Nachbarn beim Festbraten demonstrieren. Auch ich habe zwei Gänse. Wenn Gäste zu Besuch kommen, mit all dem Stress oder irgendwelchen Bedrückungen der Liebe, bitte ich sie, abends die Gänse in den Stall zu treiben.

Gänse sind Clowns

Sie watscheln unbeholfen, blicken um sich, ob der Mensch auch hinterherkommt – dann sind sie empört; wenn er es nicht tut, sind sie noch empörter. Es gibt keinen Gast, den das nicht zumindest zum Schmunzeln gebracht hat. Ja, Gänse sind Clowns. In Deutschland darf man lebenden Gänsen keine Federn ausreißen, also was tut Deutschland? Es importiert Daunen aus anderen Ländern, zum Beispiel Polen. Das heißt dann „Lebendrupf“.

Und wie gewinnt man nun Urin bei einem Schaf? „Im Grunde gibt es da zwei Methoden“, sagte der Professor. „Die erste wird Ihnen nicht gefallen. Man hält dem Schaf die Nasenlöcher zu, und nach 45 Sekunden sollte es anfangen zu urinieren.“ „Aus Todesangst?“, fragte ich. „So ungefähr.“ Ich fragte nach der zweiten Methode. „Sie nehmen eine Suppenkelle, stellen sich neben das Schaf und warten, bis es pinkelt.“

Tape auf den Penis

Ich holte eine Suppenkelle und ging in den Stall. Stellte mich neben Josh. Josh drehte kurz interessiert den Kopf zu mir um, dann kaute er seelenruhig weiter. Eine Suppenkelle hat keinerlei magnetischen Effekt auf die Schafsblase. Nach einer Weile wurde es mir zu blöd. Ich holte einen Latexhandschuh und etwas Silbertape und klebte Josh den Handschuh rund um den Penis.

(Technische Info: Bei Schafen sitzt der Penis ungefähr da, wo bei uns der Bauchnabel ist. Und ich klebte das Tape natürlich nicht direkt auf den Penis, sondern an die Wolle, ganz zart. Dabei lag ich mit dem Oberkörper unterm Josh wie ein Mechaniker unterm Auto.) Ich ging ins Haus, kehrte nach einer halben Stunde zurück: Vor dem Stall stand, wie festgenagelt, ein nun höchst alarmiert dreinschauender Josh. Da war etwas geschehen, und er verstand nicht, was. Ein halb gefüllter Latexhandschuh hing ihm unten am Bauch.

Todesschreie der Hühner

Ein Tierarzt will dem Tier helfen, jagt ihm dabei aber Todesangst ein … und das ist die Standardmethode? Und dann erst die Angst der Schweine im Transporter, die Hühnchen, dicht gedrängt in 23 Zentimeter hohen Käfigen, wie sie in den Tod fahren … Neulich stand ich in Wietze bei Celle vor einem von Europas größten Geflügelschlachthöfen. Alle fünf bis zehn Minuten fuhren LKWs an, jeder mit etlichen tausend Hühnern beladen, man sah sie undeutlich zwischen den Gittern ihrer Käfige. Drinnen werden sie in Fließbänder gehängt, kopfüber, durchs Elektrobad gefahren, kriegen dann den Kopf abgesäbelt.

Einmal im Leben habe ich die Todesschreie von Hühnern gehört. Das vergesse ich nie wieder. Wenn irgendwas dran wäre an dem ganzen Fantasy- und Esoquatsch, dann wäre rund um Wietze die Atmosphäre energetisch dermaßen höllisch aufgeladen – uns Menschen müssten Zähne und Haare ausfallen, sobald wir uns diesem Ort nähern. Geschieht aber nicht.

Wenige Stunden nach der Urinprobe musste auch das Blut entnommen werden, das entpuppte sich als noch schwieriger. Der Landtierarzt hatte Notfälle bis tief in die Nacht (dass es um meinen Josh ging, zählte er wohl nicht als Notfall, pah!). Ich telefonierte überall herum und überredete schließlich einen befreundeten Kleintierarzt zum Hausbesuch. „Das letzte Mal, dass ich bei einem Schaf Blut abgenommen habe, war während des Studiums“, sagte er skeptisch, als er den 130-Kilo-Hammel erblickte. „Aber das wird schon.“

Blut und Urin in der Kühlbox

Der Tierarzt piekste in Hals, Schwanz, Hinterbein – sogar der gutmütige Josh wurde langsam hibbelig. Da sprudelte endlich Blut ins Stroh wie ein kleiner Quell. Alhamdulillah! Es war schon dunkel, es wurde neblig, die Straße war nass, die Temperatur um die null Grad. Ich packte Blut und Urin in eine Kühlbox. Knappe zwei Stunden Autofahrt waren es nach Hannover.

Vielen Lämmern kupiert man den Schwanz. Man streift ihnen Gummiringe über, die klemmen Nerven und die Blutgefäße ab. Der Schwanz stirbt ab und fällt runter, totes Gewerbe. „Das ist keine grausame Methode“, sagte mir ein Schafzüchter, „laut Untersuchungen dauert der Schmerz nur zwei Stunden!“ – „Zwei Stunden?“, fragte ich. „Wenn Sie beim Zahnarzt sind, lassen Sie sich auch eine Spritze geben, dabei geht das schneller als zwei Stunden.“

Die Tierärztliche Hochschule lag in der Dunkelheit wie London im Nebel. Ich irrte mit meiner Kühlbox durch die Gässchen zwischen den vielen kleinen und langen Gebäuden und fühlte mich wie in einer Verfilmung von Sherlock Holmes. Dort drüben war Licht. Waren das etwa Ochs und Esel? Nein, eine Art Garage, darin eine tote Kuh. Mir war nicht klar gewesen, wie groß tote Kühe sind. Lebende vermutlich genauso. Die vier Beine reglos, da lag sie nun. Ein tolles Omen ist das ja nicht, wenn man ein Krankenhaus aufsucht … Seuche? Fehlgeschlagene OP? Tierversuch?

Blasenentzündung

In der Nähe von Hamburg habe ich einmal ein „Labor und Sammellager“ für Tierversuche angeschaut. Ringsum Natozaun, doch wenn man sich vom Feldweg her nähert, sieht man die Zwinger mit den Beagles. Unentwegt springen sie an ihren Käfigwänden auf und nieder und bellen. Viele Anwohner hatten jahrelang gedacht, es handele sich um eine Hundezucht! Jetzt, wo sie’s besser wissen, engagieren sich viele in einer Bürgerinitiative.

Diese Firma testet Giftstoffe im Auftrag anderer Firmen, auf ihrer Website bietet sie folgende Testvarianten an: oral, intraperitoneal (Injektion ins Bauchfell), intravenös, per Infusion, dermal, per Inhalation, intravaginal, intrathekal (ins Rückenmark), rektal und per Eingabe in den Augenlidsack. Was sind das für Menschen, die hier arbeiten? Angeblich teilt man Tierpflegern in Laboren jeweils ein Tier zu, das sie dauerhaft betreuen dürfen, das nicht „verwendet“ wird. Weil sie es sonst nicht aushalten.

Endlich fand ich das Labor und gab Joshs diverse Flüssigkeiten ab. Am nächsten Morgen rief ich den Professor an und erkundigte mich beiläufig, ob die Proben angekommen waren. Ja, sie waren. Mittags rief ich an, ich sei kurz draußen gewesen, ob man inzwischen bei mir angerufen habe? Nein. Ich wartete weiter wie ein Vater vorm Kreißsaal.

Viel trinken

Um drei klingelte endlich das Telefon. „Ihr Schaf hat nichts“, sagte der Schafexperte. „Kann sein, dass er kürzlich eine Blasenentzündung hatte. Aber eigentlich würde ich sagen: Das ist ein Schaf, das einfach viel trinkt. Und auf sonderbare Weise, das dauert halt länger.“

Ich legte auf, ging zum Stall hinüber. Josh stand schon wieder an der Tränke. „Alles wegen dir: hunderte von Autobahnkilometern und tote Kühe im Nebel“, schimpfte ich. „Bloß weil du dir dieses bekloppte Trinken angewöhnt hast!“ Josh guckte kurz hoch, fuhr die lange Zunge aus und mit ihr noch ungefähr hundert Mal am Rand der Tränke entlang. Erst als ich ihm in die dicke Wolle langte und ihn kraulte, hielt er inne und schloss genüsslich die Augen.

ist Journalistin und Schriftstellerin. Sie lebt in der Lüneburger Heide. Zuletzt erschien von Hilal Sezgin das Buch: "Landleben. Von einer, die raus zog" (DuMont Verlag).
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