Ein Mann kommt frei: Nächste Haltestelle Freiheit

Sicherungsverwahrung bedeutet meist Endstation. Der 59-jährige Dieter W. hatte Glück: Die Justiz ließ den Busentführer nach seiner Haft noch einmal vom Haken.

Freiheit in Sicht. Foto: dpa

Knast konserviert, heißt es gemeinhin. Auf Dieter W. trifft das nicht zu. Als sich am Mittwoch die Tore der Haftanstalt Tegel öffneten, trat ein alter Mann heraus. Die einstmals blonden Haare des 59-jährigen Hünen sind im Gefängnis schütter und grau geworden, sein Gang ist schleppend.

W. hat 13 Jahre in Haft gesessen. Er hat keinen Menschen auf dem Gewissen, er ist auch kein Sexualstraftäter. Aber alle seine Strafen zusammengenommen hat er trotzdem über die Hälfte seines Lebens hinter Gittern verbracht. Einen „notorischen Bankräuber“ nannte ihn die Presse, als er 2004 vom Landgericht das letzte Mal verurteilt wurde. Bei seiner Entlassung am Mittwoch hatte W. seine Strafe bis auf den letzten Tag verbüßt.

Trotzdem ist es ein kleines Wunder, dass er überhaupt frei ist. Immerhin hatte ihn das Gericht 2004 auch zu Sicherungsverwahrung verurteilt. Der Grund: Nach dem letzten Bankraub hatte er auf der Flucht einen BVG-Bus mit Fahrgästen gekidnappt. Letzte Woche nun hat eine Strafvollstreckungskammer überraschend entschieden, W. müsse die Sicherungsverwahrung nicht antreten.

In der JVA Tegel sitzen derzeit 843 Männer ein. 39 Gefangene befinden sich in Sicherungsverwahrung, 36 sind für die Sicherungsverwahrung vornotiert. Die Maßnahme ist die härteste Sanktion der Justiz: Die „Haft nach der Haft“ wird vorbeugend verhängt, um die Gesellschaft vor gefährlichen Straftätern zu schützen. Meist handelt es sich um Sexual- oder Gewalttäter. Die Aussichten, aus der Sicherungsverwahrung wieder in Freiheit zu kommen, sind gering. Zwar wird die Fortdauer der Maßnahme regelmäßig von einer Strafvollstreckungskammer überprüft, aber die Richter urteilen sehr restriktiv.

Ein Gefühl von Endstation

Nach einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 2011 haben Sicherungsverwahrte Anspruch auf gewissen Komfort, größere Zellen und eine therapieorientierte Behandlung. In Tegel ist deshalb 2014 sogar ein Neubau eröffnet worden. Das ändert aber nichts an dem Gefühl, dass Sicherungsverwahrung zumeist Endstation bedeutet. Dementsprechend gefürchtet ist sie bei den Vornotierten, zu denen auch W. gehörte.

Vom letzten großen Auftritt des Ganoven war in den Medien die Rede, als sich W. bei seinem Prozess vor 13 Jahren mit schwarzer Lederweste, weißem Hemd und Schiebermütze den Fotografen präsentierte. Wieder einmal erwies er sich als Meister der Selbstinszenierung. So wie bei seinem letzten Bankraub: Mit der Beute von rund 6.000 Euro hatte er einen BVG-Doppeldeckerbus Linie 185 gestoppt Eine Polizistin und ein Polizist, die zufällig in der Nähe waren, waren ihm gefolgt. W. entwaffnete die Polizistin, den Polizisten ließ er gehen. Dann zwang er den Fahrer, durch die Stadt zu fahren. Statt aufzugeben, verlangte er schließlich einen Hubschrauber und gab Radiointerviews. Nach vier Stunden Busfahrt durch die Stadt wurde er schließlich auf dem Schöneberger Sachsendamm von Polizisten mit zwei Schüssen in die Schulter gestoppt. „W. liebt es, wenn sich alles um ihn dreht“, schrieb eine Gerichtsreporterin, die den Prozess verfolgte.

Unter seinem linken Auge hat W. einen kleinen Punkt eintätowiert: eine Knastträne. Auf dem linken Unterarm hat er noch ein Tattoo: einen Skorpion. Dem verdankt er auch seinen Spitznamen. „Ich bin eine alte Haftjacke“, sagte W. über sich selbst, als ihn die taz 2012 in seiner Eigenschaft als Chefredakteur des Lichtblick interviewte. Der Lichtblick ist Deutschlands einzige unabhängige Gefangenenzeitschrift. Die Redakteure dürfen sich innerhalb des Knasts frei bewegen, Missstände werden so aufgedeckt.

Kriminell, das war W., der in einem Heim für schwer erziehbare Kinder aufgewachsen ist, schon frühzeitig. Er hat Autos geklaut, Bagger in Brand gesetzt, Strommasten gesprengt. Gern gab er seinen Taten einen politischen Anstrich. Anfang der 80er Jahre verschlug es den gebürtigen Paderborner in die Westberliner Hausbesetzerszene. Die Solidarität und der Kampf gegen das kapitalistische System hätten es ihm angetan, bekannte er einmal vor Gericht. In diese Zeit fällt auch W.s erster Bankraub. Mit einer Schrotflinte erbeutete er damals 35.000 Mark. Angeblich wollte er Deutschland verlassen und brauchte dafür Geld. Die Aktion brachte ihm 1985 sechseinhalb Jahren Haft ein.

Nach der Entlassung folgten weitere Bankraube. Das Ende markierte die Busentführung. Dabei hatte es nach seiner Entlassung Anfang 2001 zunächst so gut für ihn ausgesehen: Bei der S-Bahn fand er Arbeit als Fahrgastbetreuer. Doch schon sechs Monate später war er den Job wieder los. Angeblich, weil ihn ein Polizist erkannt hatte und ihn bei der S-Bahn mit Blick auf seine Vorgeschichte anschwärzte.

Schulabschluss nachgeholt

In der letzten Haftphase hat W. seinen Realschulabschluss nachgeholt, mit Anfang 50 eine Ausbildung zum Polsterer gemacht. „Gerade heraus und ehrlich“ sei der Insasse gewesen, verlautet aus Kreisen Justizbediensteter. „So weit, wie man das bei Leuten seines Schlages sagen kann.“ 2004, bei der Urteilsverkündung, hatte die Vorsitzende Richterin bei W. noch jegliche „Einsicht in das Unrecht seiner Taten“ vermisst. Es sei „bei ihm eine Bereitschaft verwurzelt, bei Geldnöten Banküberfälle zu begehen“.

Die 89. Große Strafkammer hat dies nun offenbar anders eingeschätzt. Am 8. April erging der Beschluss, die gegen Dieter W. verhängte Sicherungsverwahrung zur Bewährung auszusetzen. „Bei einem öffentlichkeitsträchtigen Fall wie dem von W. so zu entscheiden, dazu gehört schon Rückgrat“, freut sich der Anwalt und Vollzugsexperte Olaf Heischel. In der Regel sei es so, dass Vornotierte die Sicherungsverwahrung antreten müssten.

Auch W. war immer Realist, was das angeht. „Die Angst vor der Sicherungsverwahrung ist mein ständiger Begleiter“, bekannte er vor ein paar Jahren gegenüber der taz.

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