Ein Erfahrungsbericht: Meine Bologna-Reform

1999 beschlossen die Bildungsminister in Europas ältester Universitätsstadt die umstrittene Studienreform. Wie studiert es sich dort?

Eine Stadt, in der es sich als Student auch vorzüglich demonstrieren lässt: Bologna. Bild: dpa

Man hatte mich gewarnt. Unwissenschaftlich, das war noch das harmloseste der Worte, mit denen Studierende und Dozenten das Hochschulwesen außerhalb des deutschsprachigen Raums beschrieben. Unmissverständlich wurde uns vom Beauftragten für die Erasmus-Programme klargemacht, dass ein Auslandsaufenthalt im Lebenslauf zwar gut aussehen möge, ansonsten aber vor allem von touristischem Interesse sei. Mit den hohen Standards der Quellenkritik an heimischen Geschichstfakultäten könnten fremdländische Hochschulen keineswegs mithalten.

In England, Skandinavien und den Benelux-Ländern sei das Studium gerade noch erträglich, in Frankreich oder Italien dagegen gänzlich indiskutabel. Verschult, so lautete schon damals das vermeintlich abschreckende Wort. Wobei ein wenig unklar blieb, was daran so verkehrt sein sollte. Schließlich handelte es sich bei den Einrichtungen, um die es ging, nach geläufigem Sprachgebrauch um Hoch-Schulen.

Ich ignorierte alle Warnungen und entschied mich für die 1088 gegründete Universität Bologna, die älteste Europas und zweitgrößte Italiens. Als ich im Herbst 1991 mit meinem VW Golf von Tübingen aus durch den Gotthardtunnel fuhr, hatte ich mich im deutschen Geschichtsstudium mit exakt drei Themen beschäftigt: "Die Verwaltung Italiens unter Augustus", "Der deutsche Kinderkreuzzug von 1212" und "Die Formen bäuerlichen Widerstands in der frühen Neuzeit bei Winfried Schulze und Peter Blickle - ein Vergleich".

Von der "Neueren und Neusten Geschichte", die auf der Immatrikulationsbescheinigung als Gegenstand meiner Studien angegeben war, hatte ich nur eine ungefähre Ahnung. Natürlich las man damals die großen Gesamtdarstellungen über das 19. Jahrhundert, die Bücher Hans-Ulrich Wehlers oder Thomas Nipperdeys waren frisch auf dem Markt. Aber das war eher privates Vergnügen als Gegenstand des Lehrplans.

Mit einem gewissen Erstaunen studierte ich nach meiner Ankunft in Bologna die Liste der Lehrveranstaltungen, die unter den Kolonnaden des Palazzo Golfarelli aushing, dem damaligen Sitz der Abteilung für historische Wissenschaften. "Geschichte der italienischen Renaissance", "Geschichte der italienischen Einigung", "Geschichte des Faschismus": In solch schnörkelloser Allgemeinheit präsentierte sich dort das Lehrangebot der rund 50 Professoren, einer für deutsche Verhältnisse unglaublich großen Zahl, der allerdings nur eine Handvoll Assistenten gegenüberstand.

Was für ein Selbstbewusstsein, dachte ich. Meine deutschen Dozenten wären schon vor der Herausforderung zurückgeschreckt, die Sozialgeschichte der Kleidung in der florentinischen Republik oder die verfassungspolitischen Probleme des Konkordats von 1929 in einem einzigen Semester umfassend zu behandeln.

Das Erstaunen sollte noch wachsen. In nahezu allen Veranstaltungen, für die ich mich entschied, bekam ich in der ersten Stunde eine recht übersichtliche Literaturliste in die Hand gedrückt. Überraschungen enthielt sie kaum. Peter Burkes Geschichte der Renaissance wurde empfohlen, Giorgio Candeloros etwas monotoner Zehnbänder über die italienische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts oder Enzo Collottis Standardwerk über die europäischen Faschismen. Bei jedem Dozenten waren vier oder fünf Titel auszuwählen, über die am Ende des Akademischen Jahres eine mündliche Prüfung abzulegen war.

Mehr Andrang als in den Kollegräumen herrschte daher in den "Sale di Lettura", Lesesälen ohne jedes Bücherangebot. In bisweilen fast fensterlosen Räumen standen die Tisch- und Stuhlreihen dicht an dicht, an denen die Studenten die empfohlenen - und selbst zu kaufenden - Bücher abarbeiteten. In den Unterkünften war das zumeist nicht möglich, da es sich fast ausnahmslos um Doppelzimmer handelte.

Abwechslung versprach nur die benachbarte "Sala Ascolto Musica", ein Musik-Hör-Saal, wo man in bequemen Sesseln einen Kopfhörer aufsetzen und Stücke des klassischen Repertoires auswählen konnte, wiederum aus einer vorgefertigten Liste. Alternative Fluchtpunkte waren die "Bar dello Studente", in denen morgens der Cappuccino in zahlreichen Varianten geordert wurde ("mit wenig Schaum", "ohne Schaum"), oder die Mensa, die mittags und abends eine dreigängiges Menü mit Wein für umgerechnet fünf D-Mark offerierte.

Im Rhythmus von Lesen und Hören, Essen und Trinken zog das akademische Jahr rasch vorüber. Zumal es erst Ende Oktober begann, von einer langen Weihnachtspause unterbrochen wurde und bereits im Mai wieder endete.

Als ich schon dachte, nichts könne mich mehr überraschen, kamen die Prüfungen. Italienische Professoren sind an der Hochschule noch seltener präsent als ihre deutschen Kollegen. Das liegt daran, dass sie keine eigenen Büros haben. Drei bis fünf Dozenten, darunter durchaus auch namhafte, drängen sich in winzigen Kämmerlein zusammen. Es konnte durchaus vorkommen, dass dort mehrere mündliche Prüfungen gleichzeitig stattfanden.

Unter deutschen Austauschstudenten kursierte das Gerücht, es gebe gar keine Fragen, sondern Aufforderungen nach dem Muster: "Referieren Sie bitte den Inhalt von Candeloro, Neunter Band, Kapitel Drei." Das erwies sich aber als falsch. Es ergaben sich durchaus anregende Gespräche, die durchweg erfreulich endeten. Einen Bonus für die armen Ausländer, mit so wenig Vorkenntnissen eingetroffen waren, selbstverständlich eingerechnet.

Probleme gab es nur mit Professoren, die das deutsche System für vorbildlich hielten. Umberto Eco beispielsweise. Wollte ich an seinem Kurs teilnehmen, setzte mir der Inhaber des Lehrstuhls für Semiotik auseinander, müsse ich selbstverständlich eine Seminararbeit verfassen. Bei der Rückgabe werde er die Bürotür offen stehen lassen und die Besprechung als mündliche Prüfung deklarieren. Damit sei dem Wunsch des Gesetzes nach einem öffentlichen Examen Genüge getan.

Keine Seminararbeiten

Ich habe darauf verzichtet. Seminararbeiten konnte ich schließlich auch in Deutschland schreiben, dafür brauchte ich nicht nach Italien zu gehen. Andere Austauschstudenten erwogen, vom Semiotiker Eco zum konkurrierenden Semiologen Omar Calabrese zu wechseln. Daran musste ich später oft denken, als mir Veteranen der Westberliner Hochschulkämpfe vom Zwist zwischen dem Institut für Psychologie und dem Psychologischen Institut an der Freien Universität berichteten.

Nach einer sommerlichen Hospitanz bei einer großen Münchner Tageszeitung traf ich im Herbst 1992 schließlich in Berlin ein. Meine ersten Seminarthemen waren "Die Testamente der Warendorps in Lübeck" und "Verfassungstreue Hochschullehrer in der Weimarer Republik". Die Abschlussprüfungen in Geschichte und Politikwissenschaft konnte ich mit den Spezialgebieten längst verflossener Seminare mühelos bewältigen. Literaturlisten wurden nicht ausgeteilt, größeres Allgemeinwissen nicht verlangt.

Dass die Europäischen Bildungsminister am 19. Juni 1999, fünf Tage vor meinem 30. Geburtstag, ausgerechnet in Bologna die Eliminierung des deutschen Spezialistentums beschlossen, bekam ich deshalb kaum mit. Da ging es dem taz-Redakteur nicht anders als den meisten Hochschulangehörigen. Die angestrebte Italianisierung fand ich selbstredend begrüßenswert.

Gewohnheitsmäßig besuchte ich auch nach dem Abschluss meiner akademischen Karriere noch die Kongresse der Historiker. Gewisse Zweifel beschlichen mich, als mir die Namen überspezialisierter Bachelor- oder Master-Programme zu Ohren kamen, "Mitteleuropa und angelsächsische Welt 1300-2000" etwa, "Historische und gegenwärtige Bildkulturen" oder "Holocaust Communication". Die Zweifel wuchsen, als Wissenschaftler stolz berichteten, wie sie noch die absurdesten Kurse in die neuen Lehrpläne überführt und damit ihren Stellenplan gerettet hätten.

Richtig italienisch klang das nicht. Irgendetwas haben sie nicht verstanden, die deutschen Professoren. Die Warendorps in Lübeck, sie leben noch.

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