Ein Berliner Franzose über die EM: „Wir Franzosen wollen schreien“

Zur Eröffnung der EM stehen sich Frankreich und Rumänien gegenüber: Gastautor Sébastien Vannier über die Berliner Fußballfans.

Fanmeile in Berlin

So viele Berliner Fans… Foto: dpa

WM 2006. Der Kopfstoß von Zidane: Die erste meiner Erinnerungen als französischer Fußballfan in Deutschland. Damals lernte ich auch die deutsche Fankultur kennen. Überall war Schwarz-Rot-Gold zu sehen. Auf den Fahnen in den Fenstern, auf den Seitenspiegeln der vorbeifahrenden Autos.

Und ihr Deutschen beschreibt uns Franzosen als patriotisch! Dabei hielt sich unser Fußballstolz zuletzt ziemlich in Grenzen, denn unsere eigene Mannschaft hatte sich bei vorherigen Fußballturnieren (WM 2002 und EM 2004) einfach ins Aus geschossen. Immerhin haben wir dann 2006 das WM-Finale im Berliner Olympiastadion erreicht.

Damals traf ich mich mit einer größeren Gruppe von Franzosen in einer Berliner Bar. Die deutsche Mannschaft war kurz zuvor im Halbfinale von Italien besiegt worden und ihr Deutschen hattet euch komplett mit uns solidarisiert. „Ah, les Francais! Ihr müsst uns rächen und gegen Italien gewinnen“, sagten die deutschen Fans in der Bar.

Seit dieser Weltmeisterschaft kehren die deutschen Fahnen jeden zweiten Sommer massenweise in meinem Weddinger Kiez zurück, nun also wieder. Gewöhnen musste ich mich jedoch nicht nur an die deutschen Fahnen, sondern auch an die vielen Böller, die während der Spiele gezündet werden, um die Tore zu feiern. Diese Knallertradition kenne ich von zu Hause nicht, weder von Silvester noch vom Fußball.

Vor zwei Jahren dann verlor Frankreich gegen Deutschland im WM-Viertelfinale. Als Berliner Franzose war es also an der Zeit, wie schon so oft in den letzten Jahren, die Niederlage anzuerkennen und die Wahlheimat zu unterstützen. Weswegen ich das Halbfinale Brasilien – Deutschland mit einem französischen Freund zu Hause angeschaut habe.

Ein Auge auf dem Bildschirm gerichtet, hatten wir das Fenster geöffnet, um die Reaktionen der Nachbarschaft zu verfolgen. In meinem Weddinger Hof lässt sich jedes Spiel der deutschen Nationalmannschaft tatsächlich ganz praktisch ohne Fernseher verfolgen. Ein lautes „Jaaa“, gerahmt von ein paar Knallern bedeutet Tor für Deutschland. Ein lang gegurgeltes „Rhaaaa“ steht für einen Pfostenschuss und, phonetisch weitaus schwieriger, ein isoliertes und dabei stolz gerufenes „Ahahaha“ für jedes Tor der gegnerischen Mannschaft.

Beim Spiel Brasilien gegen Deutschland 2014 kam es im Hof zu 10-minütigen orgienähnliche Schreiereien – Jaaaa, Jaaaa, Böller, Böller, Jaaaa, Jaaaa. Den Nachbarn gingen die Böller für die zweite Halbzeit aus.

„Beim Spiel Brasilien gegen Deutschland kam es zu 10-minütigen orgienähnlichen Schreiereien. Den Nachbarn gingen die Böller aus“

Bei jedem Turnier, das ich hier in Berlin erlebt habe, ist es für meine deutschen Freunden völlig selbstverständlich zu denken, dass die deutsche Nationalmannschaft den Titel gewinnen wird. Jedes andere Ergebnis wäre eine herbe Enttäuschung.

Das Vertrauen in unser eigenes Können ist bei uns in Frankreich nicht so stark entwickelt. Selbst in diesem Jahr, wo wir einen Heimvorteil und talentierte offensive Spieler haben und viele Leute auf Frankreich als Europameister setzen, ist unser Ziel das „Halbfinale“.

Aber: Vielleicht bin ich durch euch Deutsche in den letzten Jahren patriotischer geworden. Denn inzwischen träume ich heimlich für Les Bleus und von einem „Wunder von Paris“, das die triste Stimmung in meinem Heimatland ein bisschen heben könnte.

Böller werde ich mir für diese EM trotzdem nicht kaufen. Dafür hoffe ich, dass meine Weddinger Nachbarn mich oft schreien hören werden – selbstverständlich auf Französisch.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.