Dunkle Geschichte der Jugendpsychiatrie: Medizinversuche an Heimkindern

In Einrichtungen der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Norden haben Ärzte Medikamente getestet und ohne Einwilligung schmerzhafte Behandlungen durchgeführt.

Ein Schild mit dem Schriftzug "Psychiatrie Wunstorf" steht vor einem großen alten Gebäude.

In der Psychiatrie Wunstorf wurde in den Nachkriegsjahrzehnten an Heimkindern geforscht Foto: dpa

In der Jugendpsychiatrie Niedersachsens sind nicht nur Medikamenten und Impfstoffe, sondern auch Behandlungsverfahren getestet worden. Wie der NDR unter Berufung auf Betroffene und historische Unterlagen berichtete, wurden Jugendliche im ehemaligen Landeskrankenhaus Wunstorf bei Hannover äußerst schmerzhaften Behandlungen unterzogen – ohne Einwilligung.

Sowohl die niedersächsische als auch die schleswig-holsteinische Landesregierung haben Studien zu den Versuchen in den jeweiligen Kinder- und Jugendpsychiatrien in Auftrag gegeben. Anlass sind Erkenntnisse, die die Krefelder Pharmakologin Sylvia Wagner, bei den Recherchen zu ihrer Doktorarbeit aus historischen medizinischen Zeitschriften gewonnen hat.

In den Aufsätzen aus den 1950er- bis 1970er-Jahren veröffentlichten Ärzte Forschungsergebnisse, die sie in kinder- und jugendpsychiatrischen Einrichtungen in Schleswig-Hesterberg, Rehburg-Loccum und Wunstorf erzielten. Die Ärzte untersuchten unter anderem die Wirkung von Mitteln gegen Psychosen und epileptische Anfälle sowie zur Dämpfung der sexuellen Aktivität: gegen „exzessive Masturbation“ und als Mittel der „chemischen Kastration“ bei „abweichendem Sozialverhalten“.

Bei den jetzt vom NDR aufgebrachten Fällen geht es um ein Verfahren namens Pneumoenzephalographie. Dabei werden die Lendenwirbel angebohrt; es wird Hirnwasser entzogen und Luft eingepresst. Betroffene beschreiben die Behandlung im NDR-Fernsehen als sehr schmerzhaft. „Ich hab sowas nie wieder gespürt“, sagt Dagmar Kräker-Cooper, die heute in den USA lebt.

„Ein unterdrücktes und verdrängtes Kapitel der Heimgeschichte“ heißt die Studie, in der Sylvia Wagner über Pharmatest in Kinderheimen berichtet.

Beruhigungsmittel: In Wunstorf sowie im Kinder- und Jugendheim Brunnenhof in Rehburg-Loccum untersuchte der Psychiater Hans Heinze junior die Wirkung von Bromverbindungen. Dort hatte schon sein Vater gleichen Namens ein Präparat an Kindern getestet. Dieser war in NS-Zeit an der Euthanasie beteiligt.

Im Landeskrankenhaus Schleswig wurde das Medikament Haloperidol ausprobiert. Es sollte psychischen Erregungszuständen mit Neigung zur Aggressionen und Selbstbeschädigung durch exzessive Masturbation vorbeugen.

Schon die Punktion sei sehr schmerzhaft gewesen, bestätigt Marion Greenaway. Später habe sie einen ungeheuren Druck gespürt: „wahnsinnig, den Kopf möchten Sie sich zusammendrücken“. Greenaway sagt, sie sei völlig gesund gewesen und habe sich trotzdem mehrfach dieser Behandlung, die die Kinder „Enze“ nannten, unterziehen müssen.

In einer Festschrift zum 125-jährigen Jubiläum des Landeskrankenhauses 2005 wird über die Pneumoenzephalographie berichtet: „Während der Beobachtungszeit fand eine gezielte Untersuchung der jungen Patienten statt, um herauszufinden, welche Ursachen die psychischen Störungen hatten“, heißt es dort. Dazu sei ihnen bei der „sogenannten Enze“ Hirnflüssigkeit entnommen worden.

Die Nachfolgerin des Landeskrankenhauses, die Psychiatrie Wunstorft des Klinikums Region Hannover (KRH) beteuert ihr „unbedingtes Interesse an einer vorbehaltlosen und vollständigen Aufklärung der aktuell in den Medien diskutierten Sachverhalte aus den 1960er- und 1970er-Jahren“. Sie helfe Betroffenen, Kontakt mit der „Stiftung Anerkennung und Hilfe“ für Opfer von psychiatrischen Einrichtungen Kontakt aufzunehmen. Außerdem habe sie bei den zuständigen Stellen angefragt, wie mit den wenigen noch vorhandenen Personalakten verfahren werden könne.

Das Klinikum setzt auf die vom Land in Auftrag gegebene Studie, deren erste Ergebnisse im Spätsommer vorliegen sollen. Dabei werde insbesondere zu klären sein, ob die Behandlungen medizinisch gerechtfertigt war, ob eine Einwilligung vorlag und ob es Alternativen gab. Christof Beyer, der bis vor kurzem an der Medizinischen Hochschule Hannover zu diesen Themen geforscht hat, sagt: „Hat man gefragt, oder hat man die Aufnahme in eine Institution als Blankoscheck verstanden, dass man machen kann, was man will?“

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