Diskussion zu Chinas Zivilgesellschaft: Atomisierte Einzelinteressen

30 Jahre nach dem Tiananmen-Massaker funktioniert das Wohlstandsversprechen der KP noch. Doch taz-Autoren sehen ein wachsendes Protestpotenzial.

Protestierende auf dem Tienanmen-Platz. Sie tragen ein Transparent vor sich her, auf dem steht: Absolute power corrupts absolutely

Chinas Zivilgesellschaft in Aktion vor 30 Jahren auf dem Tiananmen-Platz Foto: Carl Ho/reuters

BERLIN taz | Singende Studierende, ein improvisiertes Rock-Konzert, junge Frauen, die sich gegenseitig rote Bänder um die Stirn legen. Es sind auch diese Bilder eines hoffnungsvollen Aufbruchs, die der Dokumentarfilm „Tiananmen. Die Opfer erzählen“ von Shi Ming und Thomas Weidenbach zeigt.

Umso verstörender wirken die historischen Aufnahmen von Juni 1989, die folgen: Soldaten, die eine auf Pekings Platz des Himmlischen Friedens (Tian'anmen-Platz) nach dem Vorbild der Freiheitsstatue errichtete „Göttin der Demokratie“ stürzen. Soldaten, die Gewehre auf Demonstrierende richten. Soldaten, die abdrücken.

Die Nacht vom 3. auf den 4. Juni 1989 wurde zur blutigsten Nacht der jüngeren chinesischen Geschichte. Aufgearbeitet wurde das damals Geschehene bis heute nicht. Während im Ausland vom Tian'anmen-Massaker gesprochen wird, wählt die Kommunistische Partei den Begriff liu si shiqing: „Zwischenfall des vierten Juni“.

319 Tote habe es gegeben, heißt es von offizieller Seite, Menschenrechtsgruppen sprechen hingegen von bis zu 3.000 Menschen, die vor 30 Jahren in Peking ihr Leben verloren.

Wo steht Chinas Zivilgesellschaft heute?

Doch wo steht China heute, 30 Jahre nach der gewaltsamen Niederschlagung der Demokratiebewegung? Gibt es noch eine chinesische Zivilgesellschaft? Und wenn ja, wo und wie kann sie sich gegen das Regime der KP behaupten?

Diese und andere Fragen diskutierten am Montagabend gelegentlich auch für die taz schreibende freie Journalist und Filmemacher Shi Ming, die ehemaligen taz-China-Korrespondent*innen Jutta Lietsch und Felix Lee mit Moderator und Asienredakteur Sven Hansen in der taz Kantine.Dabei ging es schnell um mehr als die Frage nach Begrifflichkeiten. Die Diskutant*innen waren sich einig: Der ökonomische Aufschwung und der Wohlstand einer wachsenden chinesischen Mittelschicht bieten eine zu einfache Erklärung für das Ausbleiben von nationalen Protesten und Aufständen im gegenwärtigen China.

Mehrere Menschen sitzen vor Publikum auf Sesseln und diskutieren miteinander

Jutta Lietsch, Moderator Sven Hansen, Felix Lee und Shi Ming diskutierten in der taz Kantine. Foto: Lin Hierse

„Wohlstand auf Kosten der Menschenrechte hat die KP zu ihrem Mantra gemacht – und das hat soweit funktioniert“, sagte Felix Lee, der bis Ende März aus Peking berichtete.

Kränkelndes Wachstum, drohende Arbeitslosigkeit

Laut Lee werde diese Strategie der chinesischen Führung jedoch immer anfälliger. Im Kontext kränkelnden Wachstums und drohender Arbeitslosigkeit könnte die Partei ihre vielleicht wichtigste Legitimation – die, des Wohlstandsversprechens – schon bald verlieren. Ob es dann zunehmend zu Unruhen kommen könnte, ist schwer vorauszusagen.

Lee sieht die meisten Protestaktionen in China derzeit nur punktuell wirken: „Da würde ich nicht von Zivilgesellschaft sprechen, denn es gibt keine Debatten“. Besonders der unabhängige Journalismus fehle, um Fakten zusammenzutragen und größere Diskussionen zu ermöglichen.

Für Shi Ming hat sich in vielen Gesellschaften ein Paradigmenwechsel vollzogen. Es gehe nicht mehr um Ideale, sondern um „atomisierte Einzelinteressen“, auch in China.

„Überall gibt es nachbarschaftliches Engagement“

Die frühere China-Korrespondentin Jutta Lietsch betonte jedoch, dass die Besinnung auf das Geschehen und Wirken im nächsten Umfeld keinesfalls ein typisch chinesisches Phänomen ist. „Überall gibt es Leute, die sich nachbarschaftlich engagieren“, sagte Lietsch, „die Leute gehen aber sehr pragmatisch mit ihren Möglichkeiten um“.

Die meisten Menschen wollten zuerst Gerechtigkeit – die Einforderung von Demokratie sei dann ein möglicher Schritt, um diese zu erreichen. Lietsch warnte davor, die Linie des politischen Systems in China auf einzelne Menschen zu übertragen.

Die Diskutant*innen sprachen auch über den Einfluss neuer Technologien und Digitalisierung auf die chinesische Gesellschaft. Während Internet und die Sozialen Medien einerseits neue Kanäle für Widerstand und kritische Meinungsäußerung öffneten, sei die Fülle sich rasend verbreitender Falschinformationen ein großes Problem.

„Es ist nicht mehr nachvollziehbar, was überhaupt stimmt“, so Lee. Die Kommunistische Partei versuche, Technologie als Allheilmittel anzuführen. Für Shi Ming ist dieser Weg ohne Einbeziehung der Bürger*innen jedoch eine Sackgasse: „Die Komplexität ist so groß, dass man die Menschen beteiligen muss. Auch an den Problemen, die sie selbst verursachen.“

Ausbleibende Menschenrechtskritik aus Europa

Auch an Europa wurde Kritik laut. In Bezug auf die Menschenrechtslage in China hätten sich die meisten europäischen Regierungen in den vergangenen Jahren immer mehr zurückgehalten. „Es kommt kaum noch Kritik von den meisten europäischen Regierungen. Aber es ist eine völlig falsche Politik, dass nicht mehr über Menschenrechtsverletzungen gesprochen wird“, sagte Felix Lee.

Einfache Antworten gab es an diesem Abend für die 120 Zuhörer nicht. Shi Ming brachte auf den Punkt, warum: „Wir müssen China endlich wie ein modernes, westliches Land verstehen – mit Vielschichtigkeit und Ambivalenzen.“

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