Die Wahrheit: Magnet der Käuze

Ist der neue Trendsport Schach gut oder sowohl als auch? Eine versierte Analyse aus dem Innersten des königlichen Spiels.

Peer Steinbrück und Helmut Schmidt an gespiegeltem Schachbrett. Bild: dpa

Politisch gut eingespurte Leser werden sich erinnern, dass die Hamburger Illustrierte Der Spiegel kurz vor dem Anpfiff zur Bundestagswahl 2013 einen lauten Skandal auslöste: Sie brachte ein überlebensgroßes Foto von Peer Steinbrück und Helmut Schmidt beim Schachspielen – doch das schwarzweiß gefältelte Brett lag falsch herum! Bei einem gesunden Brett ist das rechte untere Eckfeld weiß, im Spiegel aber war es schwarz wie ein Tag bei Nacht.

Die Ursache, so ein forensisches Gutachten, waren nicht die Spieler. Vielmehr hatte der Spiegel getreu dem Knüppelvers „nomen est omen“ das Foto gespiegelt, wodurch die Materie seitenverdreht aufs Papier geritzt wurde: eine Schlampigkeit, die man unter den Teppich schieben könnte, würfe die Affäre nicht ein knochentrockenes Licht auf die unterirdische Praxis des politischen Journalismus in diesem unseren Lande, auf seinen Straßen und Plätzen.

Um also hier und heute vor der Weltöffentlichkeit endlich zu bezeugen, dass beide Staatsmänner vom Schach so viel verstehen wie von Politik, sei die fragliche Partie hier mit allen Höhen und Tiefen wiedergegeben:

Weiß: Steinbrück, Schwarz: Schmidt. 1. e4 e5 2. h4 (Sehr gut, verhindert Dh4.) Sf6? 3. Dh5! (Nutzt aus, dass der schwarze Schmidt 2. ? h5 unterließ.) g6 4. Dxe5:+ Le7 5. Lc4 Sc6 6. Sc3 (Kapitales Opfer oder genialer Bock? Für Spieler vom Format Schmidts und Steinbrücks egal!) Sxe5 7. b3 c6 8. Sf3 Da5 9. Sxe5 d6 10. Lxf7:+ (Steinbrück rief „Matt“, Schmidt reichte ihm die Hand zum Zeichen der Aufgabe, und nach einer Zigarettenpause ging es weiter.) Kd7 11. Lc4 b5.

(Hier lobte Steinbrück die Wand und rückte, als Hausherr Schmidt sich umdrehte, den schwarzen König nach d8.) 12. Sxc6:+ („Nanu? Der stand doch auf d7?!“, wunderte sich Schmidt und zog also:) Kd7 sowie bxc4 13. Sxa5 – und weil bereits beide Damen vom Brett sind, einigte man sich schließlich auf eine neue Zigarettenpause und vergaß die Partie.

Steinbrück verlor bekanntlich das Wettrennen um den Kanzlerthron gegen seine Herausforderin Merkel vom christdemokratischen Ufer. Weniger bekannt dürfte selbst kulturell justierten Lesern sein, dass er und sein Komplize Schmidt im Anschluss an das Schachmatch – Endstand nach zahllosen Partien: 0:0 – von der Unesco zu Weltbotschaftern des Schachspiels ernannt wurden und Schach vom Internationalen Olympischen Komitee IOC zur neuen Trendsportart erhoben wurde.

Schach zieht die Narren an

Tatsächlich genießt das königliche Spiel seit den Anfängen der Menschheit kristallscharfe Wertschätzung, wird es noch heute als Ausdruck höchster menschlicher Intelligenz angebetet, überflügelt nur von ein paar Euro kostenden Softwareprogrammen. Medizinische Härtetests, zuletzt im lebenden Experiment an Weltmeister Markus Carlsen (Norwegen) und Herausforderer Woppo Anand (Indien) durchgeführt, haben bewiesen: Eine Schachpartie fordert das Gehirn bis zum Platzen und setzt alle Nervenzellen in Tätigkeit – und das sind hunderte!

Doch die Wahrheit hat bekanntlich wie immer zwei Seiten. Die andere lautet: Das Schachspiel ist ein Magnet, der Käuze und Narren wie ein Schwamm anlockt, ein Sammelbecken, in dem Autisten und weltfremde Genies nisten wie Großmeister Akiba Niemzowitsch, der, als er sich zu einer Turnierpartie niedersetzte, die Jacke ausziehen wollte und die Hose über den Kopf zog. Oder wie der bis zur Nasenspitze scheue Weltklassespieler Roman Hübner, der unter den Spieltisch sprang, als ihn ein Fernsehteam interviewen wollte, und rief: „Ich bin nicht da!“

Oder wie Exweltmeister Absalom Karpow, der jahrzehntelang in der Vorpubertät und seinem Kommunionsanzug stecken blieb und eine Partie nach der anderen baute – Gestalten allesamt, auf die der Zweizeiler des Nervenarztes und selbst bekennenden Schachmeisters Siegfried Tarrasch zutrifft: „Schach vereinfacht das Leben. Man denkt an nichts anderes mehr.“

Auf jedem handelsüblichen Schachkästel glühen deshalb weithin die Warnhinweise „Schach fügt Ihnen und Ihrer Umwelt erheblichen Schaden zu“, „Schach kann zu einem schnellen und schmerzhaften Tod führen“ oder „Schach macht beim Zuschauen impotent“.

So weit, so schlecht! Nun darf die Gegenseite wieder einen Zug ausspucken. Er lautet: Die Schachkunst ist die Mutter aller Künste! Ob Siegfried Lenz, der mit dem Schachroman „Es waren Züge in der Luft“ debütierte, oder Günter Grass, der mit dem Essay „Die Blechtrommel: eine ernste Konkurrenz für die Schachuhr?“ berühmt wurde: Die deutsche Literatur verdankt dem Schach so viel wie Hollywood, siehe die Klassiker „Manche mögen’s matt“ und „Casablanca II – Neues aus Ricks Schachcafé“; wie die Musik (Mozarts „Kleine Schachmusik“, Otto Reutters Chanson „In 50 Zügen ist alles vorbei“); wie die bildende Kunst, man nehme Goyas „Der Schlaf der Vernunft gebiert Materialverlust“, van Goghs nach einer vergeigten Partie gemaltes „Selbstbildnis mit abgeschnittener Ziehhand“ oder Beuys’ von einer brillanten Opferkombination Harry Kasparows inspirierte Installation „Blitzschlag mit Lichtschein auf Brett“.

Ist das Schach also gut oder eher nein? Die logische Antwort: Sowohl als auch und umgekehrt!

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