Die Strategie des „Islamischen Staats“: Der Plan der Dschihadisten

Wie im Irak könnten auch in Europa Attentate die Gesellschaft spalten. Wenn Europa seine Muslime ausgrenzt, wird der IS ihre Schutzmacht.

Ein Frauenproträt eines Paris-Opfers an einr Hauswand, daneben ein rotes Grafitti „l'amour est inevitable“ und ein Mann, der es betrachtet

Mit Liebe gegen den Hass der Islamisten Foto: ap

Sie greifen uns an, weil wir nachts ausgehen. Sie wollen uns die Freude am Fußball nehmen. Sie hassen unsere westliche Lebensart. Den Alkohol, das Schweinfleisch. Unsere Freude am Leben.

„Sie haben die Waffen. Wir den Champagner!“, schreibt das Satiremagazin Charlie Hebdo nach den Anschlägen und zeigt einen durchlöcherten Franzosen, der sich betrinkt.

„Sie“. Leicht verschwimmen hier die Grenzen zwischen den Attentätern in Paris und den in Europa lebenden Muslimen. Gewollt oder ungewollt steckt hinter solchen Aussagen eine Annahme: Der Islam und der Westen führen einen Krieg der Zivilisationen.

Der „Islamische Staat“ fördert dieses Weltbild. Da die Muslime. Hier der Westen. Der größte Gefallen, den man den Dschihadisten tun könnte, wäre, ihm in dieser Argumentation zu folgen.

Schon bei dem Attentat auf Charlie Hebdo ging es dem „Islamischen Staat“ nicht nur darum, „blasphemische Karikaturisten“ zu bestrafen. In ihrer Onlinepublikation Dabiq freuten sich die Autoren darüber, dass der Angriff die europäische Gesellschaft gespalten habe: Vorbei war es mit der religiösen Koexistenz.

Durch Rassismus zum IS

Der „Islamische Staat“ erhoffte sich in der Konsequenz, dass Muslime in westlichen Gesellschaften nicht länger willkommen geheißen würden. Dann blieben ihnen nur zwei Möglichkeiten: Sie müssten entweder vom Glauben abfallen oder sich der Idee des „Islamischen Staats“ verschreiben.

Der Kolumnist Murtaza Hussein weist im Onlinemagazin The Intercept darauf hin, dass diese Strategie der militanten Islamisten nicht neu ist. Im Irak hätte al-Qaida sie nach der US-Invasion höchst erfolgreich angewandt, um die Gesellschaft zu spalten.

Es gab damals eine Auseinandersetzung innerhalb al-Qaidas über diese Frage. Bin Ladens Vize, Aiman al-Sawahiri, hatte den damaligen Chef von al-Qaida im Irak, Abu Musab al-Sarkawi, dafür gerügt, Attentate auf schiitische Moscheen verübt zu haben, anstatt sich auf die Vertreibung der US-Truppen zu konzentrieren. Das stoße bei der Mehrheit der Muslime auf Unverständnis, urteilte bin Ladens Vize.

Al-Sarkawi hatte damals geantwortet und seine Strategie dargelegt. Er wolle einen Bürgerkrieg im Irak provozieren, indem er konsequent schiitische Ziele angreife, in der Hoffnung, dass sich dann die schiitische Mehrheitsbevölkerung gegen die Sunniten wendet. Al-Qaida bekäme dann eine Schutzfunktion für die bedrängten Sunniten.

Die Rechnung mit dem Bürgerkrieg ging auf. Die Sunniten wurden komplett aus dem politischen System des Irak ausgeschlossen und sahen al-Qaida als ihre einzige Vertretung. Heute hat der „Islamische Staat“ anstelle von al-Qaida die vermeintliche Schutzfunktion für die Sunniten im Irak übernommen.

Aufbauen statt zerstören

Die heutigen IS-Strategen, die zum großen Teil im Irak politisch sozialisiert wurden, könnten einen ähnlichen Plan für Europa haben. Sie hoffen, dass sie westliche Gesellschaften durch Attentate dazu bringen, gegen ihre muslimischen Minderheiten vorzugehen. Die Folge wäre eine gesellschaftliche Spaltung, die vor allem muslimische Jugendliche in die Reihen der militanten Islamisten treibt.

Der syrische Bürgerkrieg ist der Sauerstoff, den der „Islamische Staat“ täglich einatmet.

Europa, durch die Flüchtlingskrise politisch und gesellschaftlich ohnehin geschwächt, ist im Moment ganz besonders anfällig für ein derartiges Szenario. Und für den „Islamischen Staat“ ist die Lage komfortabel: Mit nur einer Handvoll Attentätern kann er beeinflussen, wie Europa Millionen Muslime sieht und behandelt. Und auch, wie diese Muslime sich selbst sehen.

Vielleicht kann der junge Londoner Ashley Powys als Inspiration für eine Gegenstrategie dienen. Er erzählt in einem Facebook-Eintrag von einer Szene in der Londoner U-Bahn, in der ein Mann nach den Anschlägen in Paris eine junge Frau mit Kopftuch als Terroristin beschimpfte und bedrängte. Ashley ging dazwischen und begleitete die junge Yara anschließend noch zu der Station, an der sie aussteigen musste. „Sie sollte niemals Angst haben in ihrem eigenen Land und ihrer eigenen Stadt“, erklärte er ihr zum Abschied.

Über den „Islamischen Staat“ schreibt er am Ende seines Postings: „Was sie zerstören, werden wir gemeinsam aufbauen. Wir werden dem Leben, das sie auslöschen, gemeinsam gedenken, und die Menschen, auf die sie zielen, gemeinsam schützen.“ Wenigstens er ist nicht in die Falle des „Islamischen Staates“ getappt.

Auch wenn Geheimdienste und Polizei ihre Arbeit machen, ganz verhindern können sie derartige Anschläge nicht. Frankreich hat dem „Islamischen Staat“ den Krieg erklärt, dabei ist jetzt schon klar, wie begrenzt diese Option ist.

Die Anschläge von Paris waren klassische asymmetrische Kriegsführung. Der „Islamische Staat“ ist in den letzten Wochen in Syrien und im Irak militärisch unter Druck geraten. Wie antwortet er darauf? Er kann keine gegnerischen Kampfjets abschießen. Wesentlich effektiver und medienwirksamer ist es, den Krieg mit ein paar Dschihadisten in die Hauptstadt eines seiner Gegner zu tragen.

Es ist ein Kampf um Begriffe und Erzählungen, global ausgefochten mit Kalaschnikows, Youtube und dem Koran. Was die Gelehrten der islamischen Welt dem „Islamischen Staat“ entgegensetzen, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 21./ 22. November 2015. Außerdem: Wie geht das Leben in Paris nach den Anschlägen weiter? Und: „Eisbären sind einfach nicht hilfreich“, sagt Srđa Popović. Der Revolutionsberater im Gespräch über Strategien im Kampf gegen den Klimawandel. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Das Ende des Bürgerkriegs

Genauso klassisch und berechenbar ist die französische Antwort, Stellungen des „Islamischen Staats“ in Syrien zu bombardieren. Besiegen wird man den IS dadurch nicht. Gerät er unter Druck, verändert er seine Taktik. Viel entscheidender wird sein, den „Islamischen Staat“ politisch zu schwächen. Die Umstände zu ändern, die ihn starkgemacht haben. Allen voran geht es dabei um die Beendigung des syrischen Bürgerkriegs. Er ist der Sauerstoff, den der „Islamische Staat“ täglich einatmet.

Vor allem die Regionalstaaten Iran, Saudi-Arabien und die Türkei sind dafür wichtige Akteure. Das bedeutet mühevolle diplomatische Kleinarbeit und ist weniger spektakulär als die Bilder von aufsteigenden französischen Kampfflugzeugen.

Zweitens muss dem „Islamischen Staat“ im Irak die sunnitische Unterstützung entzogen werden. Solange die Sunniten aus dem politischen System in Bagdad ausgeschlossen bleiben, so lange bleibt der „Islamische Staat“ ihre Schutzmacht. Die irakischen Sunniten brauchen andere Angebote.

Nur dann kann man es schaffen, dass der IS an inneren Widersprüchen zerbricht, am Streit zwischen den verschiedenen Gruppen, die sich in ihm zusammengeschlossen haben: Dschihadisten, irakischen Baathisten. Ex-Saddam-Militärs, die maßgeblich zu den militärischen Erfolgen des IS beigetragen haben, aber eher aus der arabisch-nationalistischen Ecke kommen. Einheimische. Ausländer.

Es gibt viele Strategien, den IS zu bekämpfen. Die wichtigste Maßnahme ist aber, in Europa mit den Muslimen zusammen den gesellschaftlichen Frieden zu erhalten.

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