Die Europäische Immigrationssituation: Keiner kennt sich selbst

Es geht jetzt nicht um die Beschwörung „unserer” Werte, es geht um die konkrete Diskussion der Immigrationssituation.

Was sind eigentlich „unsere” Werte? Bild: dpa

Es gibt eine ganz merkwürdige logische Verwicklung: Es ist relativ einfach, über das Fremde, über den Fremden, über das Unvertraute, über das Überraschende, über das ganz Andere Geschichten zu erzählen. Es ist aber sehr schwierig, dasselbe über das Eigene zu tun. Das hängt damit zusammen, dass das Fremde schlicht mehr Informationswert hat als das Vertraute.

Hilfsbereitschaft befeuert

Informationen leben von Überraschungen, vom Unerwarteten. Informationen, das sagt die Informationstheorie, werden dadurch zu Informationen, dass sie einen Unterschied machen. Die Flüchtlinge machen einen Unterschied – über sie lassen sich treffliche Geschichten erzählen. Grob beobachtet waren es bis dato drei Motive, die sie erzählbar gemacht haben: Zunächst waren sie erstaunlicherweise das Objekt großer Hilfsbereitschaft und Mildtätigkeit. Sie wurden in Deutschland mit offenen Armen empfangen, waren Opfer der Weltpolitik. Sicher haben auch Anschläge auf geplante Flüchtlingsheime diese Hilfsbereitschaft – im wahrsten Sinne des Wortes – befeuert.

Widersprechen segregierte Stadtteile wie die Banlieues nicht der inklusiven Kraft offener Gesellschaften? Solche Fragen sind wichtiger als ein akademischer Diskurs über Leitkulturen

Dann kam es zu einer starken Differenzierung zwischen legitimen und illegitimen Flüchtlingen. Westbalkan und Nordsyrien wurden gegeneinander ausgespielt und die Kommentatoren wussten viel über die Flüchtlinge. Es gab viele Geschichten, die erzählbar waren. Geschichten vom Generalverdacht gegen Balkanflüchtlinge, nur aus wirtschaftlichen Gründen zu kommen, auch den Generalkredit Syrern gegenüber, echte Flüchtlinge zu sein. Schließlich begannen die eher altbekannten Geschichten wieder zum Vorschein zu kommen: die Sorge darum, dass dunkle junge muslimische Männer einfach kulturell nicht zu uns passen, dass sie unsere Werte nicht teilen. Frauenrechte und die Rechte sexueller Minderheiten wurden in Gefahr gesehen – vor allem übrigens von denjenigen, denen diese Fragen zuvor nicht unbedingt ein Herzensanliegen waren, um es vorsichtig zu formulieren.

Erzählbarkeit des Fremden

All das lässt sich in der veröffentlichten Meinung gut belegen – aber die Alltagsevidenz ist noch viel stärker, nicht, weil sie im mathematischen Sinne repräsentativer wäre, sondern weil in ihr jener Filter wegfällt, der einen Text fast automatisch verändert, wenn er zur Publikation vorgesehen ist. Meine Alltagsevidenz jedenfalls zeigt sehr deutlich, dass sich das durchaus verständliche Unbehagen darüber, wie mit einer so großen Anzahl von Menschen organisatorisch und finanziell umgegangen werden sollte, vor allem in der Erzählbarkeit des Fremden darstellt.

Konkret erlebe ich das in den verschiedensten Schichten und Milieus, denen ich begegne: Bei Taxifahrern ebenso wie bei wohlsituierten Gebildeten, bei Migranten selbst ebenso wie bei Entscheidern in Unternehmen, in wohlmeinenden bürgerlichen Milieus ebenso wie bei bildungsfernen Leuten. Der Alltag wird immer voller von solchen Hinweisen, die weit unter der Schwelle von Protest und rechten Äußerungen sind. Aber sie etablieren sich, weil sie einen Unterschied machen.

Kataloge zum Zusammenleben

Schwieriger sind zwei andere Phänomene. Zunächst: Die Hilfsbereitschaft den Flüchtlingen gegenüber ist noch immer grandios. Das bestätigt jeder, der etwas mit operativen Fragen auf diesem Gebiet zu tun hat. Aber all das wird immer unsichtbarer, weil es keinen Unterschied mehr macht. Es ist unerzählbar geworden, unerzählbarer als all die gut eingeführten Ressentiments und Vorurteile, die zwar auch keinen Informationswert mehr haben, sich aber auf Unterschiede konzentrieren können. Sie machen den Fremden vertraut. Sie wissen alles. Alles, was man wissen kann!

Das zweite Phänomen ist das Eigene: Diejenigen, die so genau wissen, wie es sich mit den Fremden verhält, wollen diesen nun erklären, wie es sich eigentlich mit uns verhält – und das geht regelmäßig in die Hose. Manche haben versucht, genau zu beschreiben, wie man in Deutschland lebt. Dann steht in entsprechenden Katalogen, die man schon in Flüchtlingsheimen verteilt hat, dass man bei uns um 22 Uhr ins Bett geht und nicht auf die Straße pinkelt. Aber auch ernsthaftere Versuche scheitern daran, dass das Besondere des Eigenen nicht so leicht auf den Begriff zu bringen ist wie das Fremde.

Das Grundgesetz taugt nicht als Wertekatalog

Das Fremde lässt sich leichter mit Vorurteilen belegen als das Eigene. Es führt dann nur zu blutleeren Werte- oder Leitkulturdebatten, nur um damit festzustellen, dass am Ende statt gemeinsamer Werte nur die Idee übrig bleibt, dass wir uns an die Gesetze halten (sollen). Abgesehen davon, dass das der Sinn von Gesetzen ist, taugt das Grundgesetz jedenfalls nicht als jener Wertekatalog, den sich die Verteidiger des Eigenen so sehr als semantische Munition wünschen: Im Grundgesetz werden, neben der Staatsorganisation, Grundrechte formuliert – allerdings in einer Form, deren Adressat vor allem der Staat ist, vor dessen Übergriffen die Bürger geschützt werden sollen.

Das Grundgesetz verlangt nur, dass der Staat und die Bürger die Gesetze einhalten. Eine besondere Verpflichtung zur Integration kennt das Grundgesetz nicht. Nicht einmal eine Pflicht zum guten Leben oder seinem Gelingen. Jetzt keine verfassungsrechtlichen Betrachtungen – ich will nur darauf aufmerksam machen, wie unbeholfen wir sind, wenn wir das Eigene beschreiben wollen, dass uns als Eigenes nur das Grundgesetz bleibt. Und darauf, wie dankbar die Fantasmatiker des Eigenen, wie dankbar der Alltagsrassismus, wie dankbar die Komplexitätsverweigerer, wie dankbar die Denkfaulen, wie dankbar die Ängstlichen sind, dass man über die Fremden so trefflich sprechen kann, über das Eigene aber das Wort gebricht. Wer sagen will, wer wir sind, gerät fast ausnahmslos in folkloristische Plattitüden – oder wird peinlich.

Der Hass ist alles andere als blind

Der Terror von Paris ist manchen dieser Fantasmatiker nicht nur eine Bedrohung, sondern fast ein Geschenk des Himmels, bestätigt er doch angeblich, was man über die Fremden immer schon wusste. Das Argument, dass die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak exakt vor solchem Terror geflohen sind – man denke an den schweren Anschlag einen Tag zuvor in Beirut –, ist für diese Fantasmatiker gar nicht dechiffrierbar. Wer nun die Flüchtlingssituation gegen den Terror von Paris ausspielt, könnte dümmer sein als diejenigen, die den Terror bringen, zumindest im Hinblick darauf, was unser Eigenes ist. Um dies zu verstehen, lohnt es sich immer noch, die wenigen Interviews, die es mit Osama bin Laden gibt, noch einmal zu hören. Hier wird klar formuliert, was der Gegenstand des Hasses ist. Dieser Hass ist alles andere als blind. Er kann Geschichten dazu erzählen, vielleicht weil er etwas Fremdes erzählt.

Denn was unser Eigenes ist, das wissen vielleicht wirklich nur die, denen unser Eigenes fremd ist. Die Anschläge in Paris, die wahllosen Morde, diesmal nicht gegen die ironische und selbstironische liberale Presse, sondern gegen den Sport und die Popkultur, gegen das unbeschwerte Leben. Die Täter wussten genau, wogegen sie vorgehen: Gegen eine Gesellschaft nämlich, die – anders als sie – nicht darauf angewiesen ist, genau sagen zu können, was das Eigene ist. Gegen eine Gesellschaft, die es nicht nur aushält, dass es in ihr eine gewisse Indifferenz und Interesselosigkeit darüber gibt, wie die unterschiedlichen Gruppen und Milieus leben. Sondern gegen eine Gesellschaft, die dies gar nicht als Defizit erlebt, vielmehr als ihr Ureigenes zelebriert – ohne dafür einen Hohepriester und einen Altar zu haben und ohne Orte zu haben, an denen man darüber Geschichten erzählen könnte oder müsste.

Das Eigene bleibt unerzählt

Es ist eine Gesellschaft, die sogar Leute aushält, die am Ende zu Mördern werden. Das ist die unglaubliche Paradoxie, die sich gerade abspielt. Es ist eine Gesellschaft, die nicht auf geschlossene Geselligkeit setzt, sondern darauf, dass lose Kopplungen die Grundlage aller Bindungen sind. Solche Gesellschaften wissen weniger über sich, als manche es brauchen. Deshalb erzählen sie lieber etwas über die Fremden: Die einen romantisieren den edlen Wilden, die anderen dämonisieren ihn. Aber das Eigene bleibt unerzählt – und das sollte auch so bleiben.

Armin Nassehi ist Professor für Soziologie in München und Herausgeber des Kursbuchs.

Soeben von ihm erschienen: Kursbuch 185 - Fremd sein! (Murmann, 19 Euro).

Was nicht so bleiben sollte, ist eine selbstkritische Reflexion der europäischen Immigrationssituation. Hat es nicht auch etwas mit Europa selbst zu tun, dass die meisten Terroristen in Europa aufgewachsen sind? War die Gesellschaft der losen Kopplungen vielleicht zu unsensibel dafür, wie man Ghettos vermeidet und soziale Mobilität fördert? Widersprechen segregierte Stadtteile wie die Banlieues und ähnliche Ghettoisierungen nicht der inklusiven Kraft offener Gesellschaften? Solche operativen Fragen sind wichtiger als ein akademischer Diskurs über Leitkulturen, gemeinsame Wertkataloge oder sonstige Beschwörungsformeln. Vielleicht ist es ein schwacher Trost, dass der barbarische Terror von außen uns vor die Wahl stellt, nun starke Geschichten über uns selbst zu erzählen oder die noch viel stärkere Geschichte, dass es keiner eindeutigen Geschichten bedarf, sondern loser Kopplungen.

Der Terror hätte noch mehr Erfolg, wenn er uns, „uns”, paradoxerweise „UNS” dazu bringen würde, dass wir uns als ein starkes „Wir” gerieren. Die Stärke unseres „Wir” ist, dass es wirklich eine erste Person Plural ist, die darauf verzichtet, daraus ein handelndes Ich im Singular zu machen. Dass das Eigene unsichtbar bleibt, ist ein Segen – nur: Wie bringen wir das denjenigen bei, denen man das erzählen müsste? Auch aus dieser Paradoxie gibt es kein Entrinnen!

ARMIN NASSEHI

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