Deserteure in der Ukraine: Das Recht, Nein zu sagen

Männer im wehrpflichtigen Alter dürfen die Ukraine nicht verlassen. Doch das Recht, nicht zu töten, muss auch und gerade im Krieg gelten.

Ukrainischen Soldaten.

Ukrainische Männer zwischen 18 und 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. Was, wenn manche nicht kämpfen wollen? Foto: Andrew Marienko/ap

Es sind herzergreifende Szenen. Ein Mann drückt seine kleine Tochter und seine Frau, die in einen Bus steigen, um zu fliehen vor dem Angriff Russlands, um Kiew, um die Ukraine zu verlassen. Es fließen Tränen, in dem Video, das in den sozialen Medien die Runde machte. Der Mann wird bleiben. Er muss. Das Land verteidigen gegen den Aggressor. Muss das so sein? Nein.

Allein das archaische Geschlechterbild dahinter sollte zeigen, wie rückständig die Idee ist, irgendein Ziel durch Krieg zu erreichen. Frauen und Kinder werden in Sicherheit gebracht, während – oder besser gesagt: weil – sich Männer die Köpfe einschlagen. Auf Leben und Tod.

Selbstverständlich gibt es ein Recht auf Verteidigung. Das gilt für jede angegriffene Person. Und auch für einen Staat wie die Ukraine. Sie darf sich mit allem, was sie hat, dem russischen Überfall­ entgegenwerfen. Aber resultiert daraus eine Pflicht zur Verteidigung? Nein.

In der Ukraine aber gibt es sie, wie in vielen anderen Staaten auch. Seit dem Angriff Russlands dürfen männliche Staatsbürger zwischen 18 und 60 Jahren das Land nicht mehr verlassen, um für die Verteidigung herangezogen werden zu können. Wer es doch versucht, dem droht die Festnahme. Der ukrainische Grenzschutz meldete wiederholt, dass Mobilisierungsverweigerer an der Grenze festgenommen und den Militärbehörden überstellt wurden. Wer Nein sagt, ist illegal. Ein Deserteur. In Russland müssen junge Wehrpflichtige in den Krieg ziehen, teilweise ohne zuvor darüber informiert worden zu sein. Desertieren wird äußerst hart bestraft – russische Deserteure haben darum Anspruch auf Asyl in der EU.

Muss man da mittaumeln?

Als Pazifist hatte man es in der Ukraine schon vor der Generalmobilmachung nicht leicht. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung gab es allenfalls für Mitglieder kleinerer religiöser Gruppen. Wer sich bei seiner Gewissensentscheidung nicht auf einen besonders rigiden Gott berufen konnte, dem blieben nur Tricksereien oder Korruption, um der Einberufung zu entgehen. Eine anti-atheistische Absurdität, wie man sie vor allem, aber nicht nur in religiös geprägten Staaten weltweit finden kann.

Mit dem Einmarsch der russischen Truppen bleibt ukrainischen Kriegsgegnern per Gesetz der Ausweg ins Ausland verwehrt. Sie müssen sich zudem dem nationalen Verteidigungstaumel entgegenstellen. Hier geht es schließlich um Kiew, um Charkiw, um die Heimat, das Vaterland. Europa. Die Demokratie. Diesen heldenhaften Präsidenten im T-Shirt, der die Russen mit Selfie­videos schlägt. Der mit bewundernswertem Pathos fast die gesamte Welt hinter sich versammelt. Aber muss man da mittaumeln? Nein.

Selbst ein gerechter Krieg ist immer noch ein Krieg. Und Soldaten sind Mörder. Immer. Auch im Verteidigungsfall. Denn es gibt immer auch einen anderen Weg. Weggehen zum Beispiel. Nein sagen. Desertieren.

Das ist alles andere als verantwortungslos. Jeder, der sich dem Töten verweigert, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht noch mehr Leid zugelassen hat. So wie sich jeder Soldat fragen lassen muss, ob er mit seinem Tun tatsächlich Gewalt verhindert hat. Auf dieses moralische Dilemma kann es keine allgemeingültige Antwort geben.

Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht

Doch wenn niemand Nein sagt, dann werden die Straßenbahnen wie sinnlose glanzlose glas­äugige Käfige blöde verbeult und abgeblättert neben den verwirrten Stahlskeletten der Drähte und Gleise liegen, hinter morschen dachdurchlöcherten Schuppen, in verlorenen kraterzerrissenen Straßen. Das schrieb Wolfgang Borchert 1947 in seinem „Sag Nein“-Manifest. Es liest sich, als beschriebe er die aktuelle Lage in Charkiw.

Und deshalb ist Kriegsdienstverweigerung ein Menschenrecht. Keins, das in der 1948 verabschiedeten UN-Charta verankert wurde. So weit wollten die beteiligten Staaten selbst unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gehen. Die größte Sorge eines auf militärische Macht setzenden Regierenden lautet: Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin. Ein Deserteur allein wird die Welt nicht ändern. Aber Tausende? Millionen? Darin liegt die kleine, utopische Chance des Pazifismus – auch wenn er aktuell Lichtjahre davon entfernt scheint, ein Comeback zu feiern.

Ist eine solche Debatte in Deutschland überhaupt angemessen? Wenn es um die Gewissensentscheidung der Ukrainer geht, sicher nicht. Die kann und muss jeder für sich vor Ort treffen. Doch mit der Lieferung von Waffen an die Ukraine ist Deutschland längst Kriegspartei. Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat bereits über die Einberufung von Reservisten nachgedacht. Und mit der aktuell debattierten Wiedereinführung der Wehrpflicht würde auch die deutsche Jugend bald wieder vor der charakterbildenden Frage stehen: Kriegsdienst mit der Waffe – ja oder nein?

Kein Staat darf Menschen zwingen zu töten

In der Bundesrepublik hat Kriegsdienstverweigerung eine kleine Tradition. Im Grundgesetz war sie von Beginn an verankert, gesellschaftlich akzeptiert wurde sie aber erst nach langen politischen Kämpfen in den 1970ern und 80ern. Bis Wehrmachtsdeserteure rehabilitiert wurden, hat es weitere Jahrzehnte gedauert. Immerhin hatten sie das Glück, als Soldaten im Zweiten Weltkrieg auf der falschen und somit mit ihrer Desertion auf der richtigen Seite gestanden zu haben. Andernfalls dürfte ihnen bis heute gesellschaftliche Anerkennung verwehrt geblieben sein.

Das Ringen um den Umgang mit deutscher Kriegsgeschichte hat Parteien wie SPD und Grüne geprägt. Es war der entscheidende Grund der Bundesregierung, so lange wie möglich Nein zu sagen, zu Waffenlieferungen an die Ukraine. Auch wenn die Ampel am Ende zu einem anderen Ergebnis gekommen ist, sollte sie größtes Verständnis haben für alle, die standhaft bei ihrem Nein bleiben. Und das kann nur einen dringenden Appell bedeuten an die ukrainische Regierung, alle Kriegsdienstverweigerer umgehend ausreisen zu lassen.

Denn kein Staat, nicht einmal der theoretisch perfekte, sollte Menschen zwingen dürfen, ihr Leben für ihn aufs Spiel zu setzen. Und erst recht nicht, für ihn zu töten.

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ist Leiter der taz-Regie-Ressort, das für die zentrale Themenplanung zuständig ist, und Kriegsdienstverweigerer seit 1984. Kommentierte zuletzt die Waffenaufrufe bei der Ukraine-Friedensdemo in Berlin sowie die Rolle von Gerhard Schröder. Er trägt Deserteur.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

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