Demo gegen Selbstjustiz: In Emden ist nichts vorbei

Mehrere hundert Menschen protestieren gegen Selbstjustiz. Der Bürgermeister erinnert an das getötete Kind – und an den Mob, der den Kopf des Tatverdächtigen forderte.

Im Schrecken vereint: Hand in Hand demonstrieren Menschen in Emden gegen die Lynchjustiz. Bild: dpa

EMDEN taz | „Das war’s dann wohl“, sagt am Freitagabend ein Journalist nach der großen Kundgebung auf dem Emder Rathausplatz. Diese sollte nach dem Willen der Organisatoren einen Neubeginn nach den Ereignissen der letzten drei Wochen markieren. „Es war der 24. März“, beginnt Oberbürgermeister Bernd Bornemann seine Rede.

Man kann ihr anhören, dass ein Pastor geholfen hat, den richtigen Ton zu finden. „Erinnern wir uns: Es war ein schöner Tag“, sagt Bornemann, „es herrschte fröhliche Stimmung“. Mit dieser ist es schlagartig vorbei, als die Nachricht die Runde macht, dass ein vermisstes elfjähriges Mädchen von der eigenen Mutter gefunden wurde. Vergewaltigt und getötet in einem Parkhaus neben der Emder Zeitung und einem Multiplex-Kino, direkt gegenüber der Polizeistation.

Vor derselben Wache wird drei Tage später eine Menschenmenge die Herausgabe eines Tatverdächtigen fordern. Drei Tage lang wird ein 17-jähriger Berufsschüler festgehalten, bis seine Unschuld erwiesen ist. Während dieser Zeit veröffentlichen ihm bekannte und unbekannte Menschen im Internet seine Adresse, belagern die Wohnung seiner Familie und diskutieren im Netz, wie sie ihn umbringen könnten.

Gegen acht Polizisten laufen derzeit Disziplinarverfahren, gegen zwei von ihnen ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Der 18-Jährige, der den Mord an Lena gestanden hat, war im September 2011 von seinem Stiefvater wegen des Besitzes von Kinderpornografie angezeigt worden.

Selbstanzeige: Im November meldete er sich bei der Polizei, nachdem er eine Siebenjährige nackt fotografiert hatte. Diese unternahm nichts. Auf eine Hausdurchsuchung wurde verzichtet.

Zu diesem Zeitpunkt, sagt Bornemann auf der schwarz ausgekleideten Bühne im Torbogen des alten Rathaus, habe Emden nach Lenas gewaltsamen Tod zum zweiten Mal Abschied nehmen müssen „von der Illusion einer heilen unbeschwerten Stadt“. „Wieder sind wir erschüttert, wir können nicht glauben, dass so etwas Entsetzliches in unserer Stadt geschieht.“

Der 57-Jährige spricht einfühlsam, ohne falsches Pathos. Hunderte von Menschen folgen still seinen Worten. Als er sagt, er schäme sich für das Geschehene und entschuldige sich bei dem zu Unrecht Verdächtigten, applaudieren die Zuhörer und Zuhörerinnen zum ersten Mal. Einige von ihnen werden die Einträge im Online-Gästebuch der Stadt gelesen haben, auf denen die Emder dafür angegriffen werden, dass niemand versucht hat, die Leute vor dem Polizeigebäude zu vertreiben.

„Emdener, ihr seid einfach nur widerlich“, schreibt ein anonym bleibender „Chris“. Und ein „Edom Ehceped“ fordert: „In Emden sollte man sich mal vor den Spiegel stellen und fragen: ’Inwieweit bin ich ein Schwerverbrecher?‘“

Auch ihn habe die Vorverurteilung des 17-Jährigen „persönlich sehr hart getroffen“, sagt Bornemann ein paar Stunden vor der Kundgebung in seinem Büro in einem Zweckbau der Stadtverwaltung. Der SPD-Politiker begründet dies mit seiner jahrzehntelangen Arbeit im Justizdienst, bevor er vor einem halben Jahr zum Emder Oberbürgermeister gewählt wurde. Rechtsstaatliche Grundsätze wie die Unschuldsvermutung hätten ihn geprägt.

Warum er sich dann erst am Samstag vor zwei Wochen öffentlich zu dem Mob vor der Polizei in der Nacht zum Mittwoch geäußert hat, kann er nur zum Teil erklären. Am Mittwoch habe er es zu spät erfahren, am Donnerstag sei keine Zeit gewesen und am Freitag wollte er sich aus Rücksicht auf die Beerdigung des getöteten Kindes zurückhalten.

Danach habe er allen eine Stellungnahme gegeben, die diese von ihm wollten. Und warum hat er dies nur auf Zuruf getan und keine Pressemitteilung verschickt? – „Weil wir nicht verantwortlich waren, sondern die Polizei.“ Für Bornemann ist diese Feststellung keine Anklage, sondern eine Faktenbeschreibung. Die Polizei hätte die rund 50 Menschen, die zwischen 22 Uhr abends und vier Uhr morgens vor der Wache standen, auffordern können, zu gehen.

Aber warum sie dies nicht tat – das wird in dem Gespräch mit Bornemann und anderen Emdern deutlich – mit dieser Frage kann man sich nur dann ausführlich beschäftigen, wenn die erste Schlagzeile „Ein Kind wurde ermordet“ schon wieder vergessen ist.

Die Vorverurteilung und der Aufruf zur Selbstjustiz hätten ihn erschüttert, sagt der Pastor Manfred Meyer. „Aber der Mord steht für mich an erster Stelle.“ Er begleitet die Familie Lenas und ist immer dann gefragt, wenn jemand erklären muss, wie Menschen mit einer solchen Gewalttat fertig werden.

Dass das letztlich unmöglich ist, zeigt die Kundgebung. Sie steht unter dem Motto „gegen Intoleranz, Vorverurteilungen und Selbstjustiz“, ist zugleich aber auch eine Gedenkfeier für das getötete Kind. Sie scheitert am Ende am Anspruch, „jede Menge Gefühle unter einen Hut“ zu bringen, wie es hinterher einer der Organisatoren, ein Inhaber einer Kommunikationsagentur erklärt.

Dazu hat er ein Adagietto von Gustav Mahler ausgewählt, das genau in dem Moment aus den Lautsprecherboxen erschallt, als die Versammelten einander an den Händen fassen. Eine schöne Geste, zu der der Bürgermeister sie als Zeichen der Verbundenheit aufgefordert hatte. Doch die Musik macht es unmöglich, sich auf die eigenen Gefühle und Gedanken zu konzentrieren. Ein paar Minuten geht das so, dann ist es vorbei. Nichts ist vorbei.

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