Debatte Nichtwähler: Auf die kleinsten Marktplätze

Die Zahl der sozial abgehängten Wahlverweigerer steigt. Langfristige Strategien, sie zurückzugewinnnen, gibt es nicht. Dabei liegt das Gute wie oft so nah.

Halt, nicht weglaufen! Gibt es einen Weg die Wahlbeteiligung zu verbessern? Bild: ap

Naht eine Wahl, wird gern auch der Wahlkampf selbst zum Thema gemacht: Welche neue raffinierte Strategie aus den USA übernommen wurde, wie fantasielos das alles schon wieder online aussieht und so weiter.

Was aber auch dieses Jahr garantiert keine Rolle spielen wird: Gibt es einen Weg, die Wahlbeteiligung der sozial Abgehängten zu verbessern? Ihnen das Gefühl zu geben, dass demokratische Teilhabe sich lohnt? Also: Wie könnte die demokratische Integration derer funktionieren, die am stärksten auf den Staat angewiesen sind?

Die Daten und Statistiken sind ja vorhanden und belegen, was viele auch als Bild der bundesrepublikanischen Wirklichkeit im Kopf haben: Die Lebensumstände sind ungleicher geworden. Die Chancengerechtigkeit ist überall, in jedem Lebensalter geschrumpft. Es müsste eigentlich im Interesse aller demokratisch Denkenden sein, dass die VerliererInnen dieser wirtschaftlichen und sozialen Prozesse ihre demokratischen Rechte wahrnehmen – und wählen gehen.

Die Wahlbeteiligung sinkt seit Jahrzehnten – abgesehen von einem Zwischenhoch 1998, der Kohl-ablöse-Bundestagswahl. Überholt haben die Nichtwähler die beiden alten Volksparteien bei Bundestagswahlen aber erst 2009. Da betrug die Wahlverweigerungsquote 29,2 Prozent, Union wie SPD erhielten anteilig an allen Wahlberechtigten jeweils weniger als 25 Prozent.

Enttäuschungen und Betrug

Es gelingt der Wissenschaft bislang kaum, aus der Wahlverweigerung Schlüsse zu ziehen, die auch nur bis zur nächsten Wahl halten. Gut, die erfragten, geläufigen Gründe lauten: Enttäuschung über Politik, das Gefühl, betrogen worden zu sein. Analytisch wird dann meist zwischen den Sowieso-Niewählern und den Abwägend-Manchmalwählern unterschieden.

Das Nichtwählen gilt demnach inzwischen auch für Bessergebildete als Option. Insgesamt lassen sich aber die gemeinhin vermuteten Zusammenhänge zwischen Bildung, sozialem Status und Wahlinteresse eher bestätigen als widerlegen. Wer sozial abgehängt ist, neigt zum Nichtwählen. Wer durch Job, Bildung, Einkommen stärker in die Gesellschaft eingebunden ist, wählt.

Den Parteizentralen scheint dies aber weitgehend egal zu sein. Das bisschen Mühe, das sich die etablierten Parteien zu machen bereit sind, gilt der Manchmal- und Wechselwähler-Gruppe. Die „eigenen Leute“ zu mobilisieren, lautet das vornehmste Strategieziel. Die Logik dahinter: Wir machen das am liebsten, was wir am besten können, und das am besten, was wir am liebsten tun – mit unseresgleichen kommunizieren.

Die einzigen Parteien, die Zielgruppen auch in der Nichtwählerschaft sehen und anzusprechen versuchen, sind die Linkspartei und in jüngster Zeit auch die Piraten. Die Linkspartei will ohnehin all jene aufsammeln, die der SPD zu Zeiten der Kanzlerschaft Gerhard Schröders den Rücken kehrten.

Es braucht Linkspopulismus

Nur die Linkspartei denkt laut darüber nach, welche politische Rhetorik für die gemeinte Gruppe angemessen ist. Sie bekennt sich zum simplen Ton. „Ich glaube, es braucht Linkspopulismus, auch in der Zuspitzung“, erklärt Parteichefin Katja Kipping. Der Erfolg der Linkspartei bei der Ansprache neuer beziehungsweise ehemaliger Wähler hält sich trotzdem in engen Grenzen.

Für Verblüffung sorgte dagegen zuletzt die Piratenpartei: Bei der Berliner Wahl zum Abgeordnetenhaus 2011 gab die größte Gruppe der Piratenwähler an, zuvor nicht gewählt zu haben. Es sieht allerdings nicht aus, als ließe sich das wiederholen: Vermutlich sind diejenigen, die sich von den Piraten vom Sofa oder vom Rechner weglocken ließen, auch schon wieder enttäuscht.

Die Fragen aber bleiben: Wie viel Vereinfachung ist notwendig, um mehr und andere als die eh schon Informierten zu erreichen? In der Presse wie bei den Talkshows darf man sich wahrscheinlich bloß einbilden, das Menschenmögliche zur Reduktion von Komplexität zu tun.

Ein Blick in die Programme der privaten Fernsehsender sowie jeder Ausflug an mediale Orte, die das Bildungsbürgertum nicht für sich hat, lässt allerdings nur einen einzigen Schluss zu: Gegen die leichte Verdaulichkeit der Themen Paarungsverhalten und Körperkultur kommt kein Versuch an, Politik zu erzählen.

Menschliche Nähe

Es gibt offenbar nur einen Faktor, der Politik denen näherbringt, die sich ansonsten für abgehängt halten: menschliche Nähe. Die Göttinger SozialforscherInnen Johanna Klatt und Franz Walter haben im Stadtteil-Multifunktionär – sie sprechen von „ViertelgestalterInnen“ – die letzte Person ausgemacht, die sozial Benachteiligte für demokratische Mitbestimmung zu gewinnen vermag.

Denn Bildungsmangel und Arbeitslosigkeit lassen als einziges vertrauensbildendes Kriterium die persönliche Ansprache zu. Und diese lautet, schreiben Klatt und Walter, nicht „engagier dich“ oder „partizipiere“, sondern schlicht „hilf“.

Wer auch im Viertel lebt und gleichzeitig ein Vorbild ist, kann auf diese Weise andere anstiften: zum Kuchenbacken für den Schulbasar, zum Fußballturnier, zum Aufrichten des Gartenzauns – und vielleicht auch dazu, sich politisch zu interessieren.

Dazu müssen die PolitikerInnen, so wären Klatt/Walter zu ergänzen, aber ihre eigene Präsenz verändern. Ja, genau: Dazu gehört, auf die ganz kleinen Marktplätze zu gehen. Sich von Menschen volltexten zu lassen, die oft umschweifig reden.

Zurück zur „Basis“

Sich von den eigenen Funktionären, die sich selbstherrlich zur „Basis“ erklären, fernzuhalten, eher mit Nichtorganisierten zu reden. Für die PolitikerInnen, die lokal etwas zu entscheiden haben, heißt das auch, solche Stadtteil-FunktionärInnen zu erkennen und aufzuwerten, sie nicht als lästig abschütteln zu wollen. Stadtteilkulturzentren hinstellen und eröffnen reicht nicht.

Für die Medien bedeutet das: Es könnte der Selbstaufklärung dienen, sich genauer damit zu befassen, wem ein Gesetz, eine Maßnahme wirklich nützt. Möglicherweise fällt dann auf, wie oft die Interessen der Nichtwähler nicht berücksichtigt werden. Und dass dies dazu führt, was dann wieder so wortreich medial beklagt wird: dass die Gesellschaft auseinanderfällt.

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Chefredakteurin der taz seit Sommer 2020 - zusammen mit Barbara Junge in einer Doppelspitze. Von 2014 bis 2020 beim Deutschlandfunk in Köln als Politikredakteurin in der Abteilung "Hintergrund". Davor von 1999 bis 2014 in der taz als Chefin vom Dienst, Sozialredakteurin, Parlamentskorrespondentin, Inlandsressortleiterin. Zwischendurch (2010/2011) auch ein Jahr Politikchefin bei der Wochenzeitung „der Freitag“.

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