Debatte Jens Spahn und Streitkultur: Kognitive Dissonanz

Die Moral aus dem politischen Diskurs heraushalten zu wollen, ist nicht mutig, sondern falsch: eine Replik auf den Gesundheitsminister.

Gerettete afrikanische Flüchtlinge, in gelbe Decken gehüllt

Menschenleben soll man „sachlich“ und ohne Moral diskutieren? Foto: dpa

Der neue Jens Spahn ist angenehmer als der alte. Es scheint nicht mehr viel übrig zu sein vom Provokateur aus dem rechten Lager der CDU, der genau weiß, wie er mit kalkulierten Sticheleien die Debatten anheizen kann. Der Frauen zum Beispiel vorwarf, sich die Pille danach wie Smarties einwerfen zu wollen. Der sich darüber beschwerte, dass Muslime in seinem Fitnessstudio nicht nackt duschen würden. Der sich strahlend mit Antidemokraten wie dem US-Botschafter Richard Grenell fotografieren ließ und der zum Feiern mit Österreichs schwarz-blauen Kanzler Sebastian Kurz nach Wien flog.

Das war wohl mal. Als Erstes sind der Frankfurter Allgemeinen Zeitung die „durchaus neuen Töne aus dem Mund von Jens Spahn“ aufgefallen: Der ehemals neoliberale Krawallo will neuerdings den Betreibern privater Pflegeheime an die Gewinne. Statt in fachfremden Debatten den Scharfmacher zu spielen, arbeitet er sein Programm als Gesundheitsminister ab. Und in dieser Woche hat er sich am Mittwoch dann auch noch in der taz zu Wort gemeldet – mit einem Gesprächsangebot: Die öffentlichen Debatten hätten derzeit etwas „zutiefst Unbefriedigendes“, schrieb er in einem Gastbeitrag. Auch Beiträge aus den eigenen Reihen verfolge er „mit Kopfschütteln“. Es sei deshalb an der Zeit, „gemeinsam darüber nachzudenken, wie man besser streiten kann“.

Man könnte dieses Angebot jetzt ablehnen als unaufrichtigen Vorstoß eines Mannes, der bis in die jüngste Vergangenheit nicht gerade zu einer gesitteten Debattenkultur beigetragen hatte. Wohlwollend kann man das Angebot aber auch als Zeichen der Größe wahrnehmen, vielleicht sogar als einen Versuch der tätigen Reue. Wollen wir also mal darauf eingehen und zusammen streiten. Für den Anfang vielleicht darüber, was eine mutige Debatte wirklich ausmacht. Das, was sich Jens Spahn darunter vorstellt, ist es nämlich nicht.

Der Gesundheitsminister wünscht sich in erster Linie, in Zukunft Debatten führen zu dürfen, ohne mit moralischen Argumenten konfrontiert zu werden. „Große und abstrakte Begriffe“ wie „die Moral“ dienten „dem alleinigen Ziel, den anderen und seine Beweggründe abzuwerten“, schreibt er. Als Beispiel führt er die Migrationspolitik an, über die er „eine notwendige Sachdebatte“ führen möchte, in der das Gegenüber nicht immer versucht, „die Moral nur auf einer Seite zu verorten“.

Auf Moralfreiheit gibt es keinen Anspruch

Allein ist er mit diesem Wunsch nicht. Es gibt einen Trend, ausgehend von Vertretern des rechten Lagers, moralische Argumente und deren Verfechter in der politischen Debatte zu diskreditieren. Unter dem Schlagwort des „Hypermoralismus“ werfen sie der Gegenseite vor, immer mehr Lebensbereiche moralischen Maßstäben zu unterwerfen, vermeintliche Sachargumente nicht mehr zuzulassen und den politischen Gegner dadurch auf quasi totalitäre Weise mundtot zu machen.

In Wirklichkeit laufen die Entwicklungen in eine andere Richtung – gerade in der Asylpolitik, in der humanitäre Standards stetig abgebaut werden und pragmatische Argumente die moralischen seit 2015 verdrängen. Die Kritik des vermeintlichen Hypermoralismus breitet sich trotzdem weiter aus, ist schon in den Strategiedebatten der Sozialdemokraten angekommen und klingt auch bei Sahra Wagenknechts Kritik am Kurs der Linkspartei an. Der Wunsch dahinter bleibt immer der selbe: nicht weiter mit moralischen Argumenten behelligt zu werden.

Welche Probleme sollen nach Spahns Logik „echt“ sein – und welche unecht, im Grunde also nur eingebildet?

Darauf gibt es aber keinen Anspruch. Natürlich ist es zulässig, dass ein Mann wie Jens Spahn Argumente anders gewichtet als beispielsweise eine durchschnittliche taz-Abonnentin. Er entstammt einem anderen politischen Milieu und hängt entsprechend anderen Wertvorstellungen an; er trägt politische Verantwortung und ist schon dadurch empfänglicher für realpolitische Argumente. Es ist sein gutes Recht, seine Positionen darzulegen, und er ist in der privilegierten Lage, diese auch politisch umzusetzen. Zum mutigen Streit, den er fordert, gehört dann aber auch, die Gegenposition an sich heranzulassen, die moralische Kritik zumindest anzuhören, statt sie als unsachliche Angriffe und „Gesinnungsnoten“ abzustempeln.

Und noch etwas gehört dazu: Nicht selber vorgeben zu wollen, worum sich die Debatte eigentlich zu drehen habe. Jens Spahn wünscht sich eine demokratische Streitkultur als „wichtigen Schritt hin zur Klärung von echten Problemen“. Welche Probleme sollen aber echt sein – und welche unecht, im Grunde also nur eingebildet?

Rassismus ist nicht eingebildet

In der Debatte über den Fußballspieler Mesut Özil und dessen Treffen mit dem türkischen Präsidenten Erdoğan seien „sogleich die größten Kaliber aufgefahren worden“, schreibt Spahn. Kaliber wie „Rassismus“ zum Beispiel, geschrieben in Anführungszeichen – ganz so, als gehe das nun wirklich am Thema vorbei.

Geht es aber nicht. Özil selbst berichtete in seinem Rücktrittsschreiben von „verborgenen rassistischen Tendenzen“, die jetzt ausbrechen, von Hassmails, Drohanrufen und Kommentaren in sozialen Medien. Wer ihm das nicht glauben mag, kann auf Twitter und Facebook selbst nach entsprechenden Einträgen suchen. Dort finden sich unter dem Hashtag #MeTwo dann auch gleich noch Tausende Erfahrungsberichte anderer Menschen, die von Rassismus betroffen sind.

Diese Berichte können verstören. Sie können sogar richtig unangenehm sein, vor allem für jemanden, der Rassismus bislang nicht als strukturelles Problem wahrnimmt. Die Psychologie kennt für so einen Widerspruch den Begriff der Kognitiven Dissonanz: Die eigene Einstellung (der Rassismusvorwurf ist übertrieben) und die neuen Informationen (Menschen erleben Rassismus) stimmen einfach nicht überein.

Ein Ausweg wäre es, der neuen Information die Berechtigung abzusprechen. Ein anderer wäre es, sie an sich heranzulassen und am Ende vielleicht die Einstellung zu überdenken. Welcher davon wäre wohl mutiger?

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Geboren 1988, arbeitet seit 2013 für die taz. Schreibt als Parlamentskorrespondent unter anderem über die Grünen, deutsche Außenpolitik und militärische Themen. Leitete zuvor das Inlandsressort.

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