Debatte Italien: Fünf Sterne, drei Krisen

Die M5S-Bewegung von Beppe Grillo hat mehr zu bieten als Euro-Skepsis: Als Erste hat sie Italiens Niedergang auf die politische Agenda gebracht.

In apokalyptischer Montur: Beppe Grillo am Strand von Marina di Bibbona. Bild: ap

Ist Beppe Grillos Movimento5Stelle (M5S) Italiens Fieber? Oder nicht vielmehr das Thermometer? Diese Frage bewegt die italienische, die europäische Presse. Gerade in Deutschland waren die Reaktionen auf das Wahlergebnis von Unverständnis, ja von Entsetzen geprägt.

Da hatten die Italiener das Glück, im letzten Jahr von einem Gentleman regiert zu werden, von einem, der das Land wieder auf den richtigen Weg gebracht, den Haushalt saniert, das internationale Vertrauen wiederhergestellt hatte – und was machen sie nun? Voller Undankbarkeit stimmen sie für „zwei Clowns“, wie es Peer Steinbrück (und der Economist) auf den Punkt brachte.

Aus dieser Perspektive ist die Sache mit Grillo (und neben ihm Berlusconi) klar. Doch es gibt gute Gründe für die Auffassung, dass er und sein M5S ein Thermometer sind, das weit mehr misst als den Widerstand eines Gutteils der Wählerschaft gegen die im Namen der Eurorettung vorangetriebenen Austeritätspolitiken.

Die Jungen zahlen die Zeche

Die 5-Sterne-Bewegung nämlich entstand und wuchs weit eher, als die Eurokrise im Sommer/Herbst 2011 Italien voll erfasste. Gleich drei Krisen bilden den Nährboden für den „Grillismus“: die strukturelle, mit dem schlichten Wort „Niedergang“ beschriebene Krise des Landes, die seit mehr als einem Jahrzehnt anhält; die moralische Krise der Politik und der Parteien; und schließlich – erst in den letzten eineinhalb Jahren – die akute Krise rund um den Euro.

Viele haben es heute verdrängt, doch das Wort „declino“ – „Niedergang“ – war in Italien schon lange vor dem Zusammenbruch von Lehman Brothers im September 2008 und der folgenden globalen Finanzmarktkrise ein stehender Begriff. Seit Jahren stagniert das Land mit Wachstumsraten nahe null, seit Jahren auch sind keine Produktivitätszuwächse mehr zu verzeichnen, seit Jahren verliert Italien Positionen auf den internationalen Märkten.

Den höchsten Preis für diese Entwicklung zahlten die jüngeren Generationen. Von Glück konnte reden, wer einen prekären Job mit miserabler Bezahlung fand, und Jahr für Jahr wanderten Zehntausende Hochschulabsolventen ins Ausland ab. Den heute unter 40-Jährigen sagt das Wort „Sicherheit“ nichts, zudem haben sie das klare Gefühl, von der Politik völlig vergessen worden zu sein. Es war eben diese Generation – von jungen, meist sehr gut gebildeten Menschen –, die von 2005 an den harten Kern der damals entstehenden Bewegung Beppe Grillos bildete.

Die Kaste und der Populismus

Parallel dazu explodierte die moralische Krise der Politik, der Parteien. Im Jahr 2007 erscheint das Buch „La casta“ („Die Kaste“) der beiden Journalisten Gian Antonio Stella und Sergio Rizzo; im Nu erreicht es eine Auflage von über einer Million.

„Die Kaste“: Dieser Terminus wird zur gängigen Bezeichnung für Italiens politische Klasse, die sich skrupellos äußerst großzügig selbst bedient: Rekorddiäten, Dienstwagen ohne Ende, Restaurants in Kammer und Senat, in denen die Volksvertreter hervorragend speisen, allerdings zu Preisen auf Armenküchen-Niveau: All dies wird zum täglichen Gesprächsstoff der Bürger.

Doch die Parteien, auch von der Linken, reagieren verschnupft auf die Anschuldigungen, die regelmäßig als „purer Populismus“ abgetan werden. Die eine oder andere kleine Anpassung erfolgt dann doch, so werden zum Beispiel die Preise im Senats-Restaurant deutlich erhöht (und das Restaurant kurz darauf wegen drastischer Umsatzeinbrüche geschlossen). Doch immer scheint es, als vollzögen die Parteien jene Beschneidung der eigenen Privilegien wider Willen, nicht aus echter Überzeugung.

Auch diese zweite Krise wurde zum kräftigen Motor für die 5-Sterne-Bewegung. Politiker und Medien erleben voller Staunen, dass sich im Herbst 2007 allein in Bologna 50.000 Menschen zum „Leck-mich-am-Arsch-Tag“ versammeln (und weitere Zehn- wenn nicht Hunderttausende tun es ihnen auf den Piazze der anderen italienischen Städte gleich), als an nur einem Tag 340.000 Unterschriften für ein Bündel von Gesetzesvorschlägen gegen die „Kaste“ – verurteilte Politiker raus aus dem Parlament, Beschränkung des Mandats auf zwei Legislaturperioden etc. – zusammenkommen.

Von jenem Moment an schlägt die Grillo-Bewegung Wurzeln, sie dehnt sich mit lokalen Gruppen im ganzen Land aus. Spätestens bei den Kommunalwahlen im Mai 2011 (vor dem Ausbruch der Eurokrise in Italien also) zeigen sich die Resultate. Vorneweg in der „roten“ und reichen Emilia-Romagna – aber nicht allein dort – erreicht M5S in zahlreichen Städten Ergebnisse zwischen 8 und 12 Prozent, ziehen Dutzende „Grillini“ in die Stadträte ein. Und Zehntausende Personen, in der Mehrheit jung und mit Hochschulabschluss, oft genug mit linker politischer Vergangenheit, sind in den lokalen Netzen der Bewegung aktiv.

Die Linke weiß es besser

Und die Politik? Weiterhin ignorieren die Parteien die sich aufbauende Welle. Auch von dem gemäßigt linken Partito Democratico (PD) hagelt es Populismusvorwürfe. Dahinter steckt die alte Überheblichkeit der Linken, die noch aus den glorreichen Zeiten der KPI rührt – „nur wir wissen, was das Land braucht“; die Protestbewegungen mögen sich, bitte schön, dem Primat der Partei unterordnen. Den Rest besorgen weitere Korruptionsskandale quer durch das Land, quer durch die politischen Lager.

Derweil werden die gewöhnlichen Sterblichen von der dritten, der akuten Eurokrise hart getroffen. Jetzt kann die M5S-Bewegung flächendeckend Konsens gewinnen: Sie wird zur Bewegung, die am homogensten im ganzen Land vertreten ist, von den rechten Regionen des Nordostens über das „linke“ Mittelitalien zum in ökonomischer Depression versinkenden Süden, von den Arbeitern Tarents bis zu den Kleinunternehmern des Veneto.

Mag sein, dass die Stimme für M5S ein „Protestvotum“ ist, doch diese Charakterisierung ist nicht hilfreich: Der Protest entsteht aus der Tatsache, dass ein gutes Viertel der Wähler im Angesicht der drei Krisen des Landes den Vorschlägen jener Parteien einfach nicht mehr glaubt, die den Niedergang Italiens über Jahre ignoriert haben.

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Promovierter Politologe, 1985-1995 Wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Unis Duisburg und Essen, seit 1996 als Journalist in Rom, seit 2000 taz-Korrespondent, daneben tätig für deutsche Rundfunkanstalten, das italienische Wochenmagazin „Internazionale“ und als Wissenschaftlicher Mitarbeiter für das Büro Rom der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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