Debatte Achtjähriges Gymnasium: Was Sachsen besser macht

Die Zahl jener, die in den östlichen Bundesländern eine Rückkehr zum neunjährigen Gymnasium fordern, ist marginal. Die DDR wirkt nach.

Abiturprüfung in Düsseldorf. Bild: dpa

Warum geht man im Westen 13 Jahre zur Schule? Weil die Wessis noch ein Jahr Schauspielunterricht haben. In Sachsen erzählen sie sich diesen Witz.

Die Sachsen legen das Abitur im 12. Schuljahr ab. Das war in der DDR so und ist nach der Wende so geblieben. Auch Thüringen setzte seit 1990 ungebrochen auf das achtjährige Gymnasium von Klasse 5 bis 12. Die restlichen neuen Bundesländer führten zunächst die in der alten Bundesrepublik übliche neunjährige Gymnasialzeit, das G 9, ein – um es im Zuge der G-8-Welle vor einigen Jahren, also der allgemeinen Schulzeitverkürzung, rasch wieder abzuschaffen. Im Gegensatz zu den alten Bundesländern, wo die Welle rückwärts rollt, denkt aber im Osten kaum jemand daran, die Schulzeit erneut bis Klasse 13 zu verlängern.

Kein Thema bei uns, wir fahren gut mit G 8, heißt es aus den ostdeutschen Kultusministerien. Die Debatte um das G 9 ist eine westdeutsche.

Doch was macht der Osten anders? Die reflexhafte Schlussfolgerung, dass im Osten nicht der Elternwille, sondern die Grundschulnoten über den Gymnasialbesuch entscheiden und somit der Anteil der Kinder, die Gymnasien besuchen, wesentlich geringer sein dürfte, führt in die Irre. In Sachsen-Anhalt und Meck-Pomm entscheiden die Eltern, in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zählen die Noten, doch überall gehen mehr als 40 Prozent der Schüler aufs Gymnasium: in Sachsen waren es im Schuljahr 2010/11 rund 46 Prozent, in Sachsen-Anhalt 45 Prozent und in Thüringen 44 Prozent. Zum Vergleich: in Rheinland-Pfalz, wo das G 9 nie abgeschafft wurde, betrug die Übergangsquote damals 43 Prozent.

Kein chinesischer Drill

Auch die Behauptung einer hessischen Gymnasiallehrerin, in den Schulen des Ostens herrsche eine ähnlicher Drill wie in China, ist Unsinn. Es gibt im Osten wie im Westen Lehrer, die individualisierten Unterricht mit Wochenplänen und Lerntheken geben, und jene, die frontal nach dem Frage-Antwort-Schema unterrichten.

Dass das G 8 in den neuen Bundesländern recht reibungslos funktioniert, hat andere Ursachen. Da ist zum einen die Sozialisation der Elterngeneration. Die Mehrheit der Eltern, deren Kinder heute Gymnasien im Osten besuchen, ist noch in der DDR zur Schule gegangen. Das Abitur nach Klasse 12 kennen wir, finden wir gut – so denken viele in den neuen Bundesländern. Zwar wechselten nur 10 Prozent der DDR-Schüler nach der zehnten Klasse auf die Erweiterten Oberschulen, wie Gymnasien in der DDR hießen, doch ein Viertel der Studienanfänger gelangte auf anderen Wegen an die Universitäten – über die dreijährige Berufsausbildung mit Abitur etwa. Es gab zudem ein dichtes Netz an Berufsakademien und Berufsfachschulen für die Weiterbildung – hier wurden Ingenieure, aber auch Grundschullehrer ausgebildet. Angesehene Berufe, die auch ohne Abi erreichbar waren.

In der Bundesrepublik kaperten die Angestellten und Beamten das Gymnasium als die! Schule für ihre Kinder. Der Gymnasialbesuch gilt vielerorts noch heute als gesellschaftliche Verpflichtung. Bundesweit gelangen 98 Prozent aller Studienanfänger über die Reifeprüfung an die Unis, also gehören die Kinder der Bildungsbürger und -aufsteiger selbstverständlich auf die Schulart, die das Abi als exklusiven Abschluss vergibt – das Gymnasium.

Schüler überfordert?

Als die Kultusminister im Westen das G 8 über die bestehende G-9-Kultur stülpen und Lehrpläne verdichten und Unterricht verlängern, steigen der Leistungsdruck und das Unbehagen der Eltern. Gehört die überforderte Tochter etwa doch nicht ans Gymnasium? Muss sie später putzen gehen? Beides undenkbar, also soll gefälligst die Schulzeit verlängert werden. „Lieber eine glückliche Oberschülerin als eine gestresste Gymnasiastin“, meint dagegen manche Mutter aus Borna noch heute, wenn sie über den weiteren Schulweg der Tochter nachdenkt.

Auch Gymnasiasten in Sachsen sind gefordert, und das nicht zu knapp. Doch sie profitieren davon, dass die Lehrpläne einheitlich von der Grundschule bis zum Abitur konzipiert sind und nicht im Hau-ruck-Verfahren angepasst werden mussten. So ist die schulische Belastung für die Schüler zwar von Anfang an hoch, aber damit auch gleichmäßiger über die Schuljahre verteilt.

Ganztagsbetrieb, Essenraum

In jeder ostdeutschen Plattenbauschule, die die Wende überlebt hat, gibt es zudem einen Essenraum. An vielen Schulen finden am Nachmittag noch Arbeitsgemeinschaften statt. Der Ganztagsbetrieb ist ebenfalls ein Relikt der DDR, wo die meisten Mütter berufstätig waren.

Die Gymnasien im Westen waren überhaupt nicht darauf eingerichtet, dass die Schüler bis 16 Uhr im Hause sind und nicht um halb zwei zum Mittagessen nach Haus verschwinden. Erst im Zuge des Ganztagsschulprogramms setzten sich Essensgerüche auch in den Schulen im Westen fest.

Sollte es der Rest der Republik jetzt einfach wie in Sachsen machen? Beileibe nicht. Die Gymnasien im Osten machen einiges besser, aber sie zeigen auch, was noch möglich ist.

„Bikini-Modell“

Vormittagsschule und Nachmittagsangebote stehen in Dresden, Erfurt und Halle unverbunden hintereinander – „Bikini-Modell“, lästern Experten. Und dass es hier an den Schulen im Osten schon immer Mittagessen gab, schließt nicht aus, dass die Schüler sich nach der Essenpause im Leistungskurs Chemie kaum noch auf Chemie konzentrieren können.

In den alten Bundesländern haben vor allem die einstigen Gesamtschulen längst Modelle etabliert, die den 45-Minuten-Takt und das Mittagstief überwinden. Der Schultag an solchen Ganztagsschulen ist rhythmisiert, zwischen intensiven Lernzeiten gibt es Ruhe- und Bewegungsphasen. Das Fächerkorsett wird gesprengt, in Projekten können sich die Schüler auch mal über längere Zeit mit einem Thema beschäftigen.

Eine Debatte darüber, was im Unterricht passiert und wie Schüler besser lernen, wäre mittlerweile aber auch in den neuen Bundesländern an der Zeit. Wenn man es schaffte, den „Faust“ im Deutschunterricht am Vormittag mit der Theater AG am Nachmittag zu verzahnen, dann könnten auch die Sachsen noch ein Jahr Schauspielunterricht nehmen. Trotz G 8.

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Schwerpunkte SPD und Kanzleramt sowie Innenpolitik und Bildung. Leitete bis Februar 2022 gemeinschaftlich das Inlandsressort der taz und kümmerte sich um die Linkspartei. "Zur Elite bitte hier entlang: Kaderschmieden und Eliteschulen von heute" erschien 2016.

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