David Toop über lebendige Musik: „Da lief Bach, ich wurde sauer“

Der britische Musiker und Autor David Toop über die Wiederkehr der Improvisation und den Kampf um Spontaneität – sowohl in Texten als auch in der Musik.

David Toop beim Musizieren

„Freierer Rhythmus schlägt eine freiere Gesellschaft vor“, sagt David Toop Foto: imago/United Archives International

taz: David Toop, Ihr neues Album heißt „Entities Inertias Faint Beings“ – steckt darin die These, Soundstrukturen könnten lebendige Wesen sein?

David Toop: Das Gefühl hege ich schon lange, aber ich hatte nie den Mut, es so deutlich auszudrücken. Ich sehe diese Arbeiten, vielleicht schon die Soundfiles, die ihnen zugrunde liegen, als Lebewesen – wenn man sie zusammensetzt, entsteht ein Ökosystem: Sie koexistieren, vermehren sich, manchmal ­töten sie sich gegenseitig. Manche sind völlig begraben von der Dominanz von anderen dieser Wesen.

Wie ist das zu verstehen?

Man muss kein Wissenschaftler sein, um zu verstehen, wie ein Garten funktioniert. Genauso wenig muss man Musiker sein, um meinen Sound zu verstehen. Mein Albumtitel „Faint Beings“ spielt aber schon darauf an, was diese Sounds im Vergleich zu uns Lebewesen sind: Schwach und schwer zu umreißen.

Ihr Album enthält Musik von Freunden, aber fußt auf Ihrem solistischen Werk. Dafür setzen Sie sich in Ihrem neuen Buch „Maelstrom“ mit der Improvisationsszene auseinander. Wo sehen Sie Gegensätze, wo stimmen Ihre Ästhetiken überein?

Einsamkeit ist der Modus, in dem meine Musik konzipiert wurde. Für mich ist dieser Kontrast in meinen Arbeiten fast zentral. Ich brauche beides: Momente, wo ich jedem Detail Beachtung schenken kann, aber auch Momente, wo ich jegliche Kontrolle abgebe. Vielleicht wollte ich eine Balance schaffen. Und andererseits ergänzen sie sich, denn meine Konzentration auf Kleinigkeiten bringe ich wiederum in Improvisationen bei Gruppen ein. Und diese gemeinsame Erfahrung bringt wiederum andere Tiefe in meine Arbeit als „der Typ, der im Dunkeln am Computer sitzt“.

Seit wann begeistern Sie sich für rituelle Musik?

Meine Faszination für die rituelle Musik stammt noch aus den frühen Siebzigern, als ich für eine Radiosendung das Schallarchiv der BBC nutzen durfte, in dem sich Aufnahmen aus aller Welt befinden. Das hat mich immer begleitet und es macht mich traurig, dass viele dieser Musiktraditionen verschwunden sind, denn sie zeigen andere Weisen auf, Leben und Gesellschaft zu denken, und wie Musik das reflektieren kann. Als ich am Tamborine Mountain in Australien war, entdeckte ich diese Musik nach langer Zeit wieder. Und ihre Strukturen, Sensibilitäten und Texturen haben mein Album mitgeprägt, genauso wie der Gesang der Vögel in Australien, den ich tagsüber hörte.

Der britische Musiker, Kulturjournalist und Wissenschaftler, geboren 1949, war in den späten Sechzigern Teil der Londoner Free-Jazz-Szene. 1975 spielt er das erste Album auf Brian Enos Label Obscure ein, mit Klängen neu erfundener Instrumente – und beschäftigte sich parallel dazu als Forscher und Journalist mit Musiktheorie, Bioakustik und Schamanismus. Als Mitglied der Band Flying Lizards war Toop Teil der Post-Punk-Avantgarde.

Mit den Büchern „Rap Attack” und „Ocean of Sound“ wurde er zu einem der wichtigsten Pop­theoretiker der Gegenwart. Nun legt er den ersten Teil seiner Geschichte der improvisierten Musik vor („Into the Maelstrom: Music, Improvisation and the Dream of Freedom. Before 1970“. Bloomsbury Academic, London 2016, 336 Seiten, ca. £16.99).

Und parallel dazu, allerdings nach langer Pause und vielen Zweifeln an der Sinnhaftigkeit von Alben, erschien am 24. Juni 2016 auch ein neues Werk namens („Entities ­Inertias Faint Beings“, Room40/A-Musik), das erste Lebenszeichen seit 2000, aufgenommen in der menschenleeren Einsamkeit des australischen Outback. Es ist zusammengefügt aus Aufnahmen aus dem großen Audioarchiv Toops und birgt Geräusche, Musik, die einen beinahe psychoaktiven Sog entfaltet.

Sie hörten tagsüber Naturgeräusche, nachts Gagaku und buddhistische Gesänge aus Tibet – was macht diese Musik mit Ihnen?

Heute Morgen war ich im Fitnessstudio – da lief Bach, ich wurde sauer. Bach hat für mich etwas von einem Uhrwerk. Gamelan zum Beispiel hat eine völlig andere Herangehensweise an rhythmische Struktur. Alles ist sehr langsam, jeder Gong ist ein Versuch, etwas zu kreieren, was wir Dissonanz nennen würden, jeder Gong trägt zwei dicht beieinander liegende Töne, was den Klang flirrend macht. Das Stück ist nie abgeschlossen, jeder Spieler verschiebt den Zyklus, es klingt es so, als wären Rhythmen aufeinandergestapelt.

Aber was sagt uns das?

Ich mag es, weil es etwas über menschliche Interaktion aussagt. Es ist im digitalen Zeitalter sehr einfach, Dinge auszuschließen, alles auf die Millisekunde exakt zu machen. Und das ist sehr verführerisch. Ich wollte mein Album sehr unbalanciert machen, freie rhythmische Strukturen finden, die daran anschließen. Ich kann nicht ausdrücken, was es mit mir macht, aber solche Musik zu hören, hat einen Effekt auf meinen ganzen Körper, darauf, wie er funktioniert.

Was stört Sie an Perfektion?

Neulich entdeckte ich im Netz einen Clip von „Round Midnight“ des Jazzpianisten Thelonious Monk – und in den Kommentaren bemerkte jemand: Das Klavier ist völlig verstimmt, jemand antwortete: Gut, dass wir Digitalpianos haben. Ich dachte: Hoffnungslos, jemals so ein Gefühl zu entwickeln wie Thelonious Monk bei dieser Aufnahme. Das Klavier zu stimmen, wäre perfekt, aber es wäre unfassbar langweilig. Perfektionismus hat soziale Implikationen. Es gibt unglaublichen Konformitätsdruck. Freierer Rhythmus schlägt eine freiere Gesellschaft vor. Daher entwickelt mein Album ein vergleichbares Gefühl, wie ich es in einer Improvisation machen würde.

Ist das nicht eine exotistische Interpretation? Schließlich sind oder waren die Gesellschaften, in denen diese Musik entstand, zumeist ebenso wenig frei wie die „westliche“.

Ja, nun – vielleicht tendiert zum Beispiel die japanische Gesellschaft mit ihren Hierarchien gerade darum zu musikalischen Extremen – etwa zu harschem Noise-Rock, aber auch zu einer sehr ausgelassenen Folk-Tradition. Musik reagiert immer auf die Gesellschaft, eine Opposition, eine Utopie, kein direktes Spiegelbild.

Auslöser für die Recherchen zu Ihrem Buch war, dass Sie sich wunderten, mit welcher Selbstverständlichkeit man freie Improvisation evolutionär aus dem Free Jazz erklärt. Wann entstand dieser Diskurs?

Eine der Pionierinnen des Bewusstseinsstroms war die englische Autorin Dorothy Richardson (1873–1957), die ein Mammutwerk namens „Pilgrimage“ schrieb, eigentlich eine Sammlung von Romanen, autobiografisch geprägt. Sie selbst musste als alleinstehende Frau darum kämpfen, unabhängig zu bleiben. Ihr Werk ist feministisch, aber es ist auch ein Buch über das Empfinden des Lebens. Sie versucht, die Grenzen dessen, was ein Text kann, zu durchlöchern. Die neuen Gefühle, die sie hat, die neue Identität, die sie sucht, benötigen eine andere Sprache, die existierende engt sie ein.

Was bedeutet das für Musik?

In der Musik ist das ähnlich. Der Kampf um Spontaneität, darum, nicht von Noten eingeengt zu sein, sondern Musik zu machen basierend auf Verantwortung des Einzelnen und Emphase gegenüber den Mitspielenden. Das zieht sich durch das 20. Jahrhundert. Viele Jazzmusiker wussten zum Beispiel um die Action-Painter um Jackson Pollock und wollten deren Technik übertragen – dabei ist Musik eine Gruppenangelegenheit, Malerei nicht, zumal damals kaum Geld im Kunstbusiness floss, und man ist viel mehr auf Organisation angewiesen. Jazzclubs gehörten oft Gangstern, und es gab gute Gründe, dort keine freie Improvisation zu spielen. Aber nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine Explosion von Energie, ein Begehren nach Freiheit, nachdem Menschen überall unter freiheitsfeindlichen Regimes lebten.

Was passierte damals?

Auch für uns Nachgeborene war der Weltkrieg präsent, es fühlte sich überall an, als gäbe es eine neue Chance, und es gab die utopische Hoffnung, eine völlig neue Art von Gesellschaft zu werden nach der deprimierenden ersten Hälfte des Jahrhunderts. Das Glück, in dieser Energie aufgewachsen zu sein, hat aber auch als Folge die Schwierigkeit, sie aufrechtzuerhalten. Darum wurden so viele Gleichaltrige so konservativ und verloren sich in Nostalgie.

Ist freie Improvisation deshalb Teil dieser Nostalgie der Sechziger oder hat sie noch progressive Anteile?

Für viele Menschen ist es Nostalgie, sie blicken zurück auf die Sechziger und denken an die Energie, an Hoffnung auf persönliche Freiheit, an Free Jazz. Aber Improvisation wurde auch zu einer Technik für Menschen überall auf der Welt. Egal, ob in China, Singapur und Brasilien – Musiker improvisieren. Und das klingt dann völlig anders, als wir das aus Europa gewöhnt sind. Improvisation als Gedanke, als Methodologie existiert nun – egal, in welchem Setting, mit welcher Technologie, welchen lokalen Begebenheiten, sie passt sich an, sie kann angeeignet werden. Das ist eine Stärke, so groß, dass sie selbstverständlich als Modus des Musikmachens erscheint – niemand sagt, er oder sie würde improvisieren, aber: Das tun sie.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Die Noise Bombers von Yogya­karta auf Java in Indonesien, die rumfahren, irgendwo ihr Equipment aufstellen – sie nennen das Noise, aber es ist improvisierte Musik. Es ist alles eine Erweiterung dieser ursprünglichen Idee, dass man mit Leuten rumziehen kann, egal wie, um gemeinsam Musik zu machen, unabhängig von Theorie, Noten, Hierarchien. Und das macht sie noch immer interessant.

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