Das Ö: Der unnötige Buchstabe

Das Ö ist Außenseiter, Klang gewordene Ratlosigkeit und nicht integrationsfähig. Selbst Nerds wie Ä und Ü wollen nichts mit ihm zu tun haben.

Wäre das Ö weg, niemand würde es bemerken. Bild: photocase/knallgrün

Wenn alle anderen Buchstaben auf dem Schulhof herumtollen, steht das Ö linkisch am Rand. Es steht nicht einmal in der Raucherecke, dort versammeln sich bekanntlich die cooleren Charaktere, etwa Q, X und Y. Der Umlaut macht jeden Buchstaben, und sei er noch so groß geschrieben, zum belächelnswerten Außenseiter. Ä und Ü können ein Lied davon singen. Die beiden Pünktchen sind wie dicke Brillengläser, anhand derer wir den Außenseiter Ö von seinem normalen Geschwisterchen O unterscheiden können. Streng genommen ist das Ö nicht einmal ein eigenständiger Buchstabe, sondern nur ein umgelautetes O.

Selbst Nerds wie Ä und Ü schauen auf das Ö herab, wollen nichts mit ihm zu tun haben. Denn nicht nur optisch erinnert das Ö mit seinem Mondgesicht und den beiden hingetupften Fühlern an Willy, den kognitiv leicht eingeschränkten Freund der Biene Maja. In phonetischer Hinsicht ist es die Klang gewordene Ratlosigkeit, beinahe schon ein fertiges Emoticon.

Wer etwa Sprechpausen überbrücken möchte, macht im deutschen Sprachraum gerne und ausgiebig Gebrauch vom Ä („Ähh …“) als phonetischem Lückenfüller und akustischem Fugenschaum. Um das Ö aber macht man einen großen Bogen. Nicht zufällig. Das Ö ist das noch dümmere Ä. Wer „Öhh…“ sagt, der macht nicht nur eine Pause, während der er rasch die Angel einholt, mit der er im Trüben fischt, nein, bei dem kommt einfach nichts mehr. Der ist am Ende.

Manche Buchstaben wie das T oder das P können bei Bedarf zu einem Peitschenschlag verdichtet werden, in einem Wort wie Ärger kommt sogar dem Ä eine dramaturgische Bedeutung zu. Das O ist ein Brustton, das Ö ein Flötenton. Denn während das O fordert, das Gaumensegel zu blähen und die Mundhöhle zu einer romanischen Kuppel zu weiten, beansprucht das verklemmte Ö wesentlich weniger Platz. Es bildet sich zwischen Zähnen und Lippen, die vermittels der Wangenmuskulatur widernatürlich kontrahiert werden. Wer Ö sagt, muss gar nicht erst B sagen. Wer Ö sagt, sieht einfach blöde aus.

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(Franziska Seyboldt, Paul Wrusch)

Das gilt auch für die meisten Begriffe, die sich irgendwann ein Ö eingefangen haben wie eine Krankheit, über man nicht gerne spricht. Sie faulen sozusagen von innen: Ödnis, Dödel, Möse, Tröte, Kröte, Möhre oder eben Gedöns leiden hörbar an einer Ömmeligkeit, die alles Luxuriöse, Pompöse oder gar Königliche kategorisch von sich weist.

Kein Frieden mit dem Ö

Das Ö ist eine Buchstabe gewordene Schwachstelle und gerade in Namen unbedingt zu verzichten. Ödön beispielsweise mag das ungarische Edmund sein, ist aber das Ödem unter den Vornamen. Ein Goethe wusste das. Weshalb wir in Deutschland zwar lieber Porträt statt Portrait schreiben, für besonders vornehme Worte aber sicherheitshalber die keltische Schreibweise beibehalten. Feuilleton klingt, sieht aus und liest sich einfach besser als: Föjetong. Vom dubiosen Öro oder der Öre ganz zu schweigen, mit dem der Pariser oder die Kopenhagenerin ihre Croissants bezahlen.

Nicht einmal Österreich hat seinen Frieden mit dem Ö gemacht, weicht doch der Österreicher bei jeder Gelegenheit gerne auf „Austria“ aus (Kennzeichen A). Angelsachse reagieren auf das O mit Umlaut aus völkerrechtlichen Gründen ohnehin eher allergisch. Der Umlaut erscheint hier nicht als pünktchenhaft verspielter Tand, als ästhetische Marotte, sondern, ganz wie die Fraktur, als Erinnerung an einen unheilvollen deutschen Sonderweg.

Oder, wie Lemmy Kilmister von Motörhead (!) mir einmal sagte: „It‘s not a nazi thing, you know? I just like that special look!“ Dänen, Norweger, Faröer und Isländer haben daraus die Konsequenz gezogen, ihr eigenes Ö konsequent durchzustreichen. Ein Ø weiß, woran es ist.

Gedönis ist Umwelt, ist, was wir essen, wie wir reden, uns kleiden. Wie wir wohnen, lernen, lieben, arbeiten. Kinder sind Gedöns, Homos, Ausländer, Alte. Tiere sowieso. Alles also jenseits der „harten Themen“. Die taz macht drei Wochen Gedöns, jeden Tag vier Seiten. Am Kiosk, eKiosk oder direkt im Probe-Abo. Und der Höhepunkt folgt dann am 25. April: der große Gedöns-Kongress in Berlin, das taz.lab 2015.

Manchen Worte scheinen das Ö sogar aus eigenen Kräften ganz bewusst zu vermeiden. Man beachte nur, wie beispielsweise in Œuvre das E sich förmlich in das schützende O hineindrängt – aus Angst, von aufmerksamen Lesern entdeckt und vom Duden doch noch zu einer entwürdigenden Existenz als Ö verurteilt zu werden. Umgekehrt gleicht es einem Todesurteil, bei Scrabble ausgerechnet das Ö zugewiesen zu bekommen. Wer hier das Ö zieht, zieht die Arschkarte, der empfindet sogar den Buchstabenwert von acht Punkten als blanken Hohn.

Es ist also das Ö niemals richtig in Deutschland angekommen. Es existiert am Rande der Gesellschaft und scheint nicht integrationsfähig. Es steht für alles, was kein Mensch braucht. Wäre es weg, würde es erst niemand bemerken und dann niemand vermissen. Wir sollten das Ö ausweisen, auch in seinem eigenen Interesse. In ein Land, das es zu schätzen weiß, wo es sich fühlen darf wie ein Fisch im Wasser. Am besten nach Frankreich.

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