Dancefloor von Kalabrese und Coma: Retro kann auch prekär sein

Ob geschichtsbewusst cool oder jugendlich ungestüm: Neue House-Entwürfe aus Zürich von Kalabrese und aus Köln von Coma zeigen den Willen zum Weiterfeiern.

Hat in den richtigen Second-Hand-Plattenkisten gewühlt: Kalabrese. Bild: Florian Kalotay

Es ist kompliziert auf dem Dancefloor der Jetztzeit. Auf unzähligen Tumblr- und Soundcloud-Accounts wird eine Art von Zukunft zwischen digitaler Vielfältigkeit, Videospielnostalgie und den glatten Zukunftsentwürfen der jüngeren Vergangenheit erträumt. Nur auf den Tanzflächen kommt davon selten etwas an.

Stattdessen herrscht gut 25 Jahre nach dem „Summer of Love“ und der Erfindung von Acid der Respekt vor der Vergangenheit vor. Retro? Klar. Manie? Vielleicht. Denn wenn die Archive voll sind, lässt sich kaum verhindern, dass sich Musiker dort bedienen.

Auch der Schweizer Produzent und DJ Sacha Winkler hat viel Zeit mit dem Wühlen in überfüllten Plattenkisten verbracht. „Ich habe viele schöne Ideen“, singt er im reinsten Schwyzerdütsch auf „Independent Dancer“, dem neuen Album seines Projekts Kalabrese, und dass diese nicht aus dem Nichts gekommen sind, versteht sich von selbst. Mal spielt Winkler ein gedämpftes Jazz-Piano, mal zwitschert eine 303-Drum-Machine sanft im Hintergrund, dann ertönt eine Afrofunk-Gitarre.

Und immer wieder fällt Winkler in die Rhythmen der Zeit zurück, in der Disco gerade dabei war, sich von der Tanzfläche zu lösen und Anschluss an Jazz und Post-Punk suchte.

Geschichtsbewusst cool

Der „Independent Dancer“ kennt seine Dancefloorgeschichte. Aber anstatt althipsterlich einen unterkühlten „Ich war dabei“-Gestus an den Tag zu legen, der ja doch eher ein „Ich habe gelesen, wie das Dabeigewesensein gewesen sein muss“-Gestus ist, kümmert sich Kalabrese nur wenig um Chronologien und das fehlerfreie Geheimwissen aus dem Second-Hand-Plattenladen.

Stattdessen wandelt er mit routiniertem Understatement und ohne Angst vor Fehltritten auf dem schmalen Grat irgendwo zwischen „Ich bin der König der Welt“ und der Angst, beim Bierholen ein paar Tropfen über eine fremde Jacke zu verschütten: Retro kann halt auch eine prekäre Angelegenheit sein. Aber „Independent Dancer“ ist ein Housealbum aus dem nie geschriebenen Lehrbuch.

Eine entspannte Rekonstruktion afroamerikanischer Musik, die den Dancefloor nie vergisst, aber nicht angestrengt „deep“ daherkommen will. Wie ein guter Mix pendelt die Musik zwischen den Stilen, aber kommt niemals detailversessen daher.

Ungestüm und gradlinig

Ungestümer und gradliniger preschen dagegen die beiden jungen Kölner Marius Bubat und Georg Conrad alias Coma vor. Gut fünf Jahre sind seit ihrem Livedebüt vergangen und so richtig scheinen sie mit dem Feiern seitdem nicht aufgehört zu haben. Das könnte man zumindest meinen, wenn man ihr Debütalbum „In Technicolor“ zum ersten Mal auflegt. „Feeling – alright“, tönt es da aus den Boxen, als wäre der Sommer der Liebe niemals zu Ende gegangen. Und so geht es weiter.

An einer Stelle erklingen Discofanfaren, an der anderen ein balearisches Synthesizersäuseln – grenzenloses Wohlgefühl dank hohem Wiedererkennungswert. Wenn da nicht ein wenig Unschärfe wäre. Schon beim ersten Durchgang hört man dem Debüt der beiden ihre Indievergangenheit an – und das darf man ausnahmsweise als Kompliment verstehen.

Strophen und Refrains ihrer Instrumentals tarnen sich zwar als Dancetracks, können aber niemals verbergen, dass sie später einmal als Popsongs in die weite Welt hinausmöchten. Die Synthesizer spielen kleine Melodien, die Bassdrum ist nicht nur auf der Eins, zwischendurch wird ins Mikro gehaucht. Ein Gemischtwarenhandel aus Stilistiken ist „In Technicolor“ geworden, wenn man mit dem strengen Ohr des Plattenfachsortierers zuhört.

Aber die Unfertigkeit ist der eigentliche Charme dieses Albums. Anstatt ihre Loops messerscharf in das Diktat der Software einzupassen, lassen Coma diese aus dem Ruder laufen und erzeugen so den eigentümlichen Groove, den man vom alten Post-Punk aus jener Zeit kennt, als Post-Punk noch anders hieß – nämlich „Fühlt sich super an!“

Kalabrese: „Independent Dancer“ (Rumpelmusig/Groove Attack)

Coma: „In Technicolor“ (Kompakt)

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