Coming-of-Age-Drama: Sprünge ins sehr kalte Wasser

Zart, leicht, fast flirrend: Im Spielfilm „Mit siebzehn“ erweist sich André Téchiné als Meister des Zusammenhaltens divergierender Kräfte.

Thomas (Corentin Fila) im Gespräch mit Marianne (Sandrine Kiberlain) Foto: Kool

Der eine, Thomas, lebt auf dem Berg und hilft auf dem Bauernhof seiner Eltern. Der andere, Damien, lebt in der Stadt mit seiner Mutter, der Ärztin, die die Mutter des anderen betreut. Thomas und Damien gehen in dieselbe Klasse in der Schule, die in der Stadt ist. Drei Stunden Schulweg hat Thomas im Winter, hinunter vom Berg in die Stadt und wieder zurück. Er nimmt den Bus und hat dann noch eine ganze Strecke zu Fuß.

Thomas (Corentin Fila) und Damien (Kacey Mottet Klein) sind siebzehn. Sie hassen einander. So sieht es jedenfalls aus. Thomas stellt Damien ein Bein. Damien attackiert Thomas. Sie prügeln sich und werden zum Direktor gerufen. Das ist der eine Vektor in diesem von Bewegungen und Vektoren durchzogenen Film. Bewegung den Berg hinauf und hinunter. Bewegungen aufeinander zu und voneinander weg.

Auch Damiens Mutter fährt mit dem Wagen durch den Schnee, bergan, um Thomas’ Mutter zu untersuchen. Die ist schwanger, wie oft schon, und nie hat sie ein Kind bekommen. Thomas, etwas dunkelhäutig, ist adoptiert. Sie muss ins Krankenhaus, in die Stadt, und Damiens Mutter beschließt, dass Thomas, der ihr mehr als nur ein bisschen gefällt, zu ihnen beiden ins Haus ziehen soll.

Der Vater ist nicht da, er ist als Soldat in der Ferne, im Krieg, als Hubschrauberpilot bei der Armee. Sie sprechen per Skype, nur an Weihnachten kommt er für ein paar Tage nach Hause. Dann verschwindet er wieder. In der Ferne trägt er das Parfüm seiner Frau, eine Duftillusion größerer Nähe.

Drei Kapitel hat die Geschichte, chronologisch, es sind drei Trimester im Schuljahr, die diesen Kapiteln den Namen geben. Winter erst, dann liegt kein Schnee mehr, das dritte Trimester beginnt mit einem furchtbaren Unglück. Es ist eine Geschichte, die eine komprimierte Entwicklung erzählt.

Duell in den Bergen

Das ist der klarste, der deutlichste Vektor, der mit dem stärksten Sog und Trieb: die Beziehung zwischen Thomas und Damien, die sich verändert. Was sich verändert, sind erst mal nur die Blicke, die der eine auf den anderen wirft. Damien ist schwul, damit rückt der Film nicht gleich am Anfang heraus, sondern später, mit ein paar pornografischen Bildern, die Damien auf dem Laptop betrachtet.

Und so sind die Prügel, die er Thomas verabreicht, Prügel, die ein Begehren in etwas verkleiden, das das Gegenteil des Begehrens zu sein scheint. Und Thomas prügelt zurück. Einmal stürzt er bei einem Streit einen Abhang hinunter, bricht sich die Hand. Später gehen sie in die Berge zu einem Duell. Es setzt Hiebe, die sich, wie man begreift, nicht auf alles Mögliche reimen. Es regnet fürchterlich, ein Sturzbach, ein Gewitter, sie ziehen sich zurück in eine Höhle.

Sehr nah sind sie einander von nun an. Einmal lernen sie gemeinsam für die Schule. Es geht um Philosophie und Literatur, um die Liebe, darum, was Plato dazu sagt. Es geht um Heteroliebe, aber auch ums schwule Begehren, dazu liest Damien etwas vor. „Du bist so plump“, sagt Thomas, der Damiens Begehren entschieden, dann zögerlich, dann gar nicht mehr abwehrt.

Die Überwindung einer unerklärlichen Scham

„Mit siebzehn“ erzählt nicht einfach eine Liebesgeschichte, die gegen innere eher als äußere Widerstände an ein glückliches Ende gelangt; so vorläufig das Glück wie das Ende nur sein kann, mit siebzehn. Die Kunst von André Téchiné und seiner Drehbuchkoautorin Céline Sciamma liegt vielmehr darin, wie sie über diese schöne, im Kern schlichte Geschichte hinausgehen; oder vielleicht nicht hinaus, sondern in sie hinein; wie es ihnen gelingt, diese Geschichte in eine Szenerie zu verweben, die auch andere interessante Muster enthält. Wie sie eine ganze Welt erschaffen, die manches fast ganz ignoriert – die Mitschüler zum Beispiel, die präsent sind, aber passiv bleiben, Gestalten am Rand.

Andere, der Vater von Thomas etwa, bekommen mehr Szenen, gewinnen Kontur, eine Anwesenheit, die aber nie in den Vordergrund drängt. Er tut kleine Dinge, repariert die Antenne auf dem Dach, damit der Fernseher wieder läuft. Und er strahlt, natürlich, nach der Geburt seiner Tochter, die dann auch Thomas, der erst zögert, beglückt in seinen Händen wiegt.

„Mit siebzehn“ dreht sich dabei nicht gerade um Nebensächliches: die Liebe und das erwachende Begehren, das Begreifenlernen der eigenen Identität, die Überwindung einer unerklärlichen Scham; es geht um die Geburt, also das Leben, die leisen Verschiebungen in der Folge der Generationen, denn mit der Geburt der Schwester wird Thomas vom einzigen Sohn zum sehr viel älteren Bruder; und es geht um den Tod.

Damiens Vater stirbt, hilflos macht der Staat ihn zum Helden, für Marianne ist da nur der Verlust, davon vor allem erzählt der Film im dritten Trimester, und hier verschiebt sich der Akzent noch einmal stärker auf die Dritte im zentralen Dreieck der Kräfte, Marianne, Damiens Mutter, von Sandrine Kiberlain, schmal, wie sie ist, mit großer Energie, dabei Zartheit gespielt.

Eine Frau, nicht gewillt, passiv zu sein

Eine Frau im mittleren Alter, die die Abwesenheit ihres Mannes akzeptiert, weil sie ihn akzeptiert als den, der er ist. Und er ist nun einmal der, der Pilot werden wollte, der als Pilot glücklich ist, dem ein Leben im Linienflug aber zu langweilig wäre.

Eine Frau, die vielleicht nicht immer weiß, was sie will, die aber weiß, dass sie etwas will und in diesem Wollen viel über sich erfahren hat. Eine Frau, die nicht gewillt ist, passiv zu sein; so greift sie ein, holt Thomas ins Haus, schickt seine Mutter in die Klinik, schmückt zu Weihnachten entschlossen, mehr als entschlossen, das Haus. Sie leidet, enorm, der Tod ihres Mannes wirft sie um, aber sie steht wieder auf. Und sie weiß, dass sie nach dem Tod ihres Mannes noch einmal neu, anderswo anfangen will.

„Mit siebzehn“ erzählt davon, wie es ist, siebzehn zu sein. Da ist alles noch groß. Und der Film weiß, wie das ist, siebzehn zu sein; er weiß aber mehr, André Téchiné ist ja selbst über siebzig. Das Tolle ist aber, dass er nichts besser weiß, einerseits, sondern vollkommen solidarisch bleibt mit dem schönen Pathos der Siebzehnjährigkeit; er macht, andererseits, aber auch nichts mythisch Besonderes daraus.

Er weiß mit Marianne auch, was es heißt, Mitte vierzig zu sein, schenkt ihr aber wiederum einen liebenden Blick auf den Sohn, dessen Begehren sie besser begreift als er selbst. Diese Perspektiven liegen im Film übereinander, sie widersprechen sich nicht, nicht im Wissen, nicht im Gefühl.

Das alles funktioniert, denn Téchiné ist ein Meister des filigranen Zusammenhaltens teils stark, teils subtil divergierender Kräfte. Schon immer, und hier ganz besonders. Er findet für die auseinanderliegenden, auch mal auseinanderfliegenden Perspektiven eine unaufdringliche Form.

„Mit siebzehn“. Regie: André Téchiné. Mit Sandrine Kiberlain, Corentin Fila u. a. Frankreich 2016, 114 Min.

Zart und leicht, flirrend fast, sind die Handkamerabilder; die Lücken, die die Montage sehr bewusst lässt, nehmen den sonst zu schweren Themen verlässlich etwas Gewicht, nicht zu viel, nicht zu wenig. Dem Film ist scheinbar Unwichtiges wichtig. Sprünge ins sehr kalte Wasser. Ein Gang in den Nebel. Vieles bedeutet fast nichts. Fehlte es, wüsste man nicht, was da fehlt. Es ist jetzt aber da. Und man kann nur ahnen, dass es, so wie es ist, und da, wo es ist, am genau richtigen Platz ist.

Das Kino ist eine alchemistische Kunst. Die André Téchiné auf so unaufdringliche Weise beherrscht, dass er viel zu oft unterschätzt wird.

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