Castorf-Inszenierung in Stuttgart: Albtraum unter roten Sternen

Frank Castorf inszeniert wieder einen russischen Roman. In „Tschewengur“ wird viel gehungert, während man auf den Kommunismus wartet.

Die Schauspieler Astrid Meyerfeldt (l) und Hanna Plaß (r), vom Schauspiel Stuttgart, proben in Stuttgart das Stück „Tschewengur“.

Seit dem Sommer laufen die Proben im Schauspielhaus Stuttgart. Foto: dpa

Läge irgendwo der Kommunismus begraben, sähe der Friedhof wohl ähnlich aus wie das, was sich zur Premiere von Frank Castorfs Inszenierung „Tschewengur“ auf der Bühne des Stuttgarter Schauspiels drehte. Da hängt im Bühnenbild von Aleksander Denic ein Windrad wie das Gerippe eines roten Sterns hinter der metallenen Hülle einer hoch aufgebockten Lok.

Sie wird nicht fahren. Aus dem Schornstein wachsen die hageren Grabkreuze derer, die zu ihren Füßen in ärmlichen Holzverschlägen und Stacheldrahtgehegen verhungern, anstatt auf dem Zug der Geschichte der Zukunft entgegenzudampfen. Statt der Lokomotive pfeift in der Romanvorlage von Andrej Platonov die russische Gesellschaft revolutionsgebeutelt aus dem letzten Loch und wartet hungernd und verarmt im titelgebenden Dorf Tschewengur irgendwo in der russischen Steppe auf das Eintreffen des Kommunismus.

Man kann sich angesichts der deutlichen historischen Verortung fragen, warum in Zeiten, in denen aktuell eher der Kapitalismus heiß läuft und zu entgleisen droht, gerade eine Erzählung über das Scheitern des Kommunismus von Bedeutung sein sollte. „Unsere Gesellschaft ist vielleicht frei, vielleicht gleich. Aber sie ist eins ganz bestimmt nicht: brüderlich. Und deshalb interessiere ich mich für die Autoren, die für diese Werte verreckt sind“, antwortet Frank Castorf, immer noch Intendant der Berliner Volksbühne, der aber in Stuttgart auch gerne inszeniert, in einem Interview mit den Stuttgarter Nachrichten.

Platonov, der heute zu den wichtigsten Schriftstellern des 20. Jahrhunderts gehört, ging tatsächlich an der Kritik zugrunde, die er in seinen Werken am Stalinismus äußerte. Der Roman „Tschewengur“, der in den 20er Jahren entstand, konnte wegen seines „antisowjetischen und konterrevolutionären“ Inhalts erst 1988 veröffentlicht werden. Gorki, den Platonov um Hilfe bat, kritzelte an den Rand des Manuskriptes, „der Inhalt sei irreal und gleiche einem finsteren Alptraum“.

Fünf Stunden voller Sterben

Platonovs Albtraum ist die Enttäuschung eines Traumes, in dem sich der Mensch noch nach einer sozialistischen Utopie zu sehnen wagt. Platonov ringt mit einer zähen klebrigen Ambivalenz zwischen dem tiefen Glauben an eine kommunistische Gesellschaft und den nagenden Zweifeln an deren Umsetzung, und diese Ambivalenz schlägt sich auch in den Figuren der Geschichte nieder.

Genosse Kopjonkin verehrt neben Rosa Luxemburg sein Pferd mit dem Namen Proletarische Kraft. Astrid Meyerfeldt spielt mit Fellmütze und Pluderhose erstaunlich sanftmütig diesen überzeugten Kommunisten, der still zerbricht, als die Bourgeoisie des Dorfs kollektiv zugunsten des Kommunismus hingerichtet wird. Daneben steht sonst möglichst laute Hysterie. Allen voran Matti Krause in der Rolle des gierigen Prokofi, dessen Brust ein langer blutiger Schnitt ziert, wo eigentlich das Herz sitzen sollte. Aber auch bei anderen bröckelt die Überzeugung.

„Du warst jetzt lange genug Gott, wird Zeit, dass du Lenin wirst“, ranzt ein pelzmütziges Dorfmitglied einen erdverkrusteten Irren (Andreas Leupold) an. Manja Kuhl verheißt in esoterischer Verzückung die Rettung durch die Wissenschaft, die tote Menschen revitalisiert, worauf Hannah Plaß ernüchtert mit dem Abfeuern eines Maschinengewehrs antwortet. Eher werden hundert neue Todeswerkzeuge erfunden als eines, das den Menschen wieder lebendig macht. So wechseln fünf Stunden lang komische Szenen mit alptraumhaften Sequenzen und Videoprojektionen in DDR-Märchenfilmästhetik ab.

Spannend sind Armut und Hunger aber weder im Buch noch in Castorfs Inszenierung, die fast nur mit Originaltext auszukommen scheint. Von Anfang an wird gestorben, dann fünf Stunden als Zeichen existentieller Verzweiflung geschrien, und am Ende sind alle tot.

Dieser Abend ist eine lange Wanderung statt einer rasanten Bahnfahrt. Aber wer sie mit offenem Herzen bestreitet – „Die Wanderung mit offenem Herzen“ ist der Untertitel des Romans – und die Erwartung einer Handlung ablegt, kann in der Inszenierung von Platonovs sprachgewaltiger Verhandlung des Todes die gesammelte Weisheit des Lebens erfahren.

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