Buch von früherem Pussy-Riot-Mitglied: „Modell Strafkolonie“

Nadja Tolokonnikowa brachte einst Putin in Bedrängnis. Jetzt erzählt sie ihre Geschichte und liefert zugleich ein Manifest.

Pussy Riot-Mitbegründerin Nadja Tolokonnikowa bei einem Videodreh im Januar 2016.

Nadja Tolokonnikowa schloss sich mit 16 der Moskauer Avantgardeszene an. Hier bei einem Videodreh im Januar 2016. Foto: dpa

Blutschlieren bilden sich nach 16, 17 Stunden Arbeit auf dem Nähmaschinentisch; die Hände sind wund, die Nadel rattert, die Schicht dauert an. Von 7.30 Uhr an sitzen die Frauen vor den Nähmaschinen, bis 0.30 Uhr müssen sie durchhalten. Manche sinken müde zusammen. Sie werden mit dem Knüppel geweckt: „Damit schlägt die Verwaltung die Näherinnen, die ihre Produktionsnorm (…) nicht erfüllen. Mit diesem Knüppel prügelt man aus den Frauen 250 Anzüge pro Tag“, schreibt die ehemalige Inhaftierte. Die Anzüge, das sind unter anderem Polizeiuniformen, die hier, im Frauenarbeitslager IK-14, hergestellt werden.

Das IK-14 ist eines der berüchtigten Arbeitslager in Mordwinien, die bereits seit Gulagzeiten bestehen; die Ex-Insassin, die diesen Knastalltag schildert, ist Nadja Tolokonnikowa. Als Mitgründerin von Pussy Riot wurde Tolokonnikowa in Folge des „Punk-Gebets“ in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau Anfang 2012 festgenommen.

Die heute 26-Jährige verbrachte im IK-14 den Großteil ihrer Haft. Mit „Anleitung für eine Revolution“ ist nun ihr erstes Buch erschienen, das zugleich Gefängnistagebuch und scharfe Kritik an russischer Innenpolitik ist. Es erscheint zuerst auf Deutsch. In Russland, so die Autorin, wird sich wohl kein Verlag trauen, es zu veröffentlichen.

Tolokonnikowa, die am 3. März 2012 verhaftet und am 23. Dezember 2013 – kurz vor Olympia in Sotschi – amnestiert wurde, sagte nach ihrer Freilassung: „Russland ist nach dem Modell Strafkolonie aufgebaut, Straflager und Gefängnisse sind das Gesicht des Landes.“ Die Justiz im Putin-Staat beschreibt sie im Buch mit den Worten Andrej Amalriks, eines Dissidenten aus UdSSR-Zeiten: „Dem Beschuldigten, dem Ermittler, dem Verteidiger, dem Staatsanwalt und dem Richter, allen ist völlig klar, dass alles, abgesehen von Details vielleicht, schon entschieden ist.“

Küsse und Riots

„Anleitung für eine Revolution“ ist genauso Montageroman wie politische Biografie. Putin-Zitate stehen neben Bibelzitaten, Prozess-Plädoyers neben Nachrichtenschnipseln, Äußerungen ihres Vaters neben Aphorismen und Sentenzen (“Mach Wasser zu Wein. Sei ein Superheld“, „Every kiss begins with Riot“). Letzteres verleiht dem Buch Manifestcharakter.

Nadja Tolokonnikowa: „Anleitung für eine Revolution“. Übersetzt von F. Meltendorf u. J. Seitz. Hanser Berlin 2016, 224 S., 18,40 Euro

Bei aller brutalen Sachlichkeit, mit der Tolokonnikowa das Lagerleben schildert, verkümmert weder Humor noch Empathie. Dies fällt auf, wenn sie etwa die Mitinhaftierte Slata, eine junge wie jungenhafte Frau mit Zahnlücke und Straßensozialisation, beschreibt: „Meine Sprache und ihre – das ist wie totes Latein im Vergleich zu lebendigem Italienisch (…) ich finde, dass in Slatas Sprache viel mehr Leben steckt als in meiner. (…) Dabei ist sie eigentlich ein Raubtier, muss wild tanzen, spielen, Leute anpöbeln – Miley Cyrus wird dafür mit Liebe und Millionen Dollar bezahlt, Slata verschwendet ihre Grazie an Mordwinien.“

Die Pussy-Riot-Performerin beschreibt den Sex und die Liebe im Lager, die einen den Koloniealltag verdrängen lassen. Sie lässt sich über das phallozentrische Wertesystem innerhalb und außerhalb der Gefängnismauern und über das „tausendjährige Patriarchat” in Russland aus. Kontinuitäten der Repression seit der Zeit des Zarismus sind Tolokonnikowas Thema. Sie beschreibt das System Besserungsanstalt, das System Lager, das System Gulag – und die Disziplinargesellschaft Russland, die ihres Erachtens stets fortbestand.

Montags baden Frauen, zum FKK-Schwimmen kommen Schwule und abends duschen Flüchtlinge. Im Stadtbad Berlin-Neukölln hat jede Gruppe ihre eigene Zeit. Wie sollen wir zusammen leben, wenn wir nicht zusammen planschen können? Dieser Frage gehen wir nach in der taz.am wochenende vom 27./28. Februar 2016. Außerdem: Die Feministin Laurie Penny im Gespräch über die Macht von Science-Fiction und die Schwierigkeit, ein Vorbild zu sein. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

„Überwachen und Strafen“

Die Geschichte Pussy Riots erzählt sie von der Gründung 2011 bis zur Inhaftnahme des Trios Tolokonnikowa, Katja Samuzewitsch und Maria Aljochina im März 2012. Sie reiht die Aktionen der Gruppe auf, zitiert aus den Prozessakten. Tolokonnikowa führt Foucaults „Überwachen und Strafen“ zur Analyse des Lagersystems an; naheliegend, denn das System ist eines des Pathologisierens, des Ausschlusses alles Devianten.

Auch dessen „Wahnsinn und Gesellschaft“ wäre dazu geeignet; das „Andere“ der Vernunft wird politisch unmündig gesprochen – Tolokonnikowa nennt dafür zahlreiche Beispiele. So lässt sich auch erklären, warum Pussy Riot wegen „Rowdytums“ schuldig gesprochen wurde – und vermieden wurde, sie als Oppositionelle zu betrachten.

Interessant die Analogie der Autorin zum postnazistischen Deutschland: „Das derzeitige Russland ist dem Nachkriegsdeutschland erstaunlich ähnlich: 88 Prozent aller Menschen sagen, dass man anderen nicht vertrauen könne. Ende der 1980er-Jahre war das anders: 74 Prozent der Menschen schenkten anderen Vertrauen.“ Will man den Fatalismus Tolokonnikowas verstehen, der sich in jeder Zeile manifestiert, sollte man sich also die Adenauerzeit vor Augen führen. Es brauchte 68, es brauchte Veröffentlichungen wie Ulrike Meinhofs „Bambule“. Hier also ist Tolokonnikowas Bambule. Nicht zufällig handeln beide Bücher von Besserungsanstalten.

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