Buch „Afrotopia“: „Der“ afrikanische Mensch

Felwine Sarr ist eine wichtige Stimme im Streit um koloniale Raubobjekte. Doch sein Buch ist ein Pamphlet für ahnungslose Kulturalisten.

Felwine Sarrs, links, und Benedicte Savoy

Felwine Sarr (links) und Bénédicte Savoy über die Rückführung von afrikanischer Kunst Foto: Thilo Rückeis

Im Namen von europäischen Kolonialregimen wurden schwere Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Wie etwa von Deutschen 1904 bis 1908 im heutigen Namibia, als die dortigen kaiserlichen „Schutztruppen“ den Genozid an Nama und Herero begingen. Doch sollten moralisierende Täter-Opfer-Formeln nicht den Blick auf die Details der Geschichte verstellen.

Der europäische Kolonialismus hat sehr unterschiedliche Modelle hervorgebracht. Und er war in seiner Gesamtheit seit der um 1500 einsetzenden Phase der Globalisierung kein im biologistischen Sinne rein europäisches Konstrukt. Seine Durchsetzungsfähigkeit verdankte er auch den internen Widersprüchen und Konkurrenzen vorgefundener indigener Herrschaftssysteme.

Genauer zurückzuschauen ist heute eine große Chance. Zumindest die Demokratien wollen mehrheitlich ohne patriotischen Überlegenheitskult agieren. Das macht sich auch in der aktuellen Debatte um teilweise geraubte koloniale Güter in den Museen bemerkbar. Lange zögerte man in der westlichen Welt, sich mit deren Erwerbskontext zu beschäftigen.

So ist man größtenteils aus eigenem Versäumnis in eine Situation geraten, in der nun viele den ethnologischen Sammlungen insgesamt misstrauen. Neben der überfälligen Kritik schlägt so auch die Stunde postkolonialer Populisten. Sie legen wie die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy und ihr senegalesischer Mitstreiter Felwine Sarr nahe, alles in den europäischen Sammlungen sei geraubt und solle daher am besten gleich an die früheren Herkunftsländer zurückgehen.

Völkisch-afrozentristisches Gegenmodell

Doch mit formelhaften Schwarz-Weiß-Behauptungen würde man die Türen für einen nachhaltigen Austausch eher zuschlagen als für die Zukunft öffnen. Man würde, wie Felwine Sarrs Schrift „Afrotopia“ zeigt, überkommenen Abgrenzungen und Nationalismen verhaftet bleiben. Der 1972 geborene Sarr lehnt als einer der Stichwortgeber Savoys nicht nur Begriffe wie „Entwicklungshilfe“ ab (was noch nachvollziehbar ist, da sie ideologisch imprägniert sind). Er propagiert gleich ein völkisch-afrozentristisches Gegenmodell.

„Jedes weitertreibende Nachdenken über den afrikanischen Kontinent muss dem Anspruch einer absoluten intellektuellen Souveränität genügen“, schreibt er. Die „absolute Souveränität“ sucht er in „Afrotopia“ in kulturellen Praktiken vor 1500. Denn nur vor der damals einsetzenden Globalisierung lägen Wissenstraditionen, die frei vom Denken des Westen sein sollen.

Felwine Sarr

„Der Homo africanus ist kein Homo oeconomicus im strengen Sinn“

Sarr sieht sämtliche der (so unterschiedlichen) Probleme heutiger afrikanischer Staaten durch äußere Einflussnahme und Fremdbestimmung bedingt. „Anstelle einer Stärkung des Originellen, der charakterlichen Besonderheiten der Völker“ sei es „zur Verordnung eines einheitlichen Modells“ gekommen, schreibt er, inklusive „monströser Strukturen einer erbarmungslosen globalen Wirtschaftsordnung.“

Anspruch für 50 Nationen zu sprechen

Mit solch antikapitalistisch klingender Rhetorik täuscht er links an, um rechts abzubiegen: „Der afrikanische Mensch der Gegenwart ist hin- und hergerissen zwischen einer Tradition, mit der er nicht mehr vertraut ist, und einer Moderne, die ihn von außen befallen hat wie eine zerstörerische, entmenschlichende Gewalt.“ So formulieren das in Europa die Rechtspopulisten, nur in Abwehr von Einflüssen aus den Migrationen des Südens. Ersetzte man in Sarrs Wortlaut das Wörtchen „afrikanische“ durch „sächsische“, der AfD würde es gefallen.

All die historischen Widersprüche und Konkurrenzen, die vor Ankunft der Europäer unter den afrikanischen Nationen und Gruppen herrschten, interessieren Sarr nicht. Sie passen nicht in das Muster der panafrikanischen Erweckungslehre, nach der alles Böse aus „dem“ Westen kam, man folglich nur zu den paradiesischen Urzuständen zurückkehren müsse.

Unbescheiden beansprucht er, für über 50 Nationen auf dem Kontinent zu sprechen: „Der afrikanische Mensch spürt, dass man ihn mit Haut und Haar unvermittelt in eine Weltordnung gestürzt hat, die sein Schicksal erschüttert. Er muss dieses Schicksal neu erfinden und auf eine Höhe führen, die jenem Einsatz angemessen ist, den er selbst bestimmt hat.“ Sarr zitiert auch Frantz Fanon von 1961. Doch wo stünde Fanon heute? Bei den neuen „Verdammten dieser Erde“ auf den Straßen Algiers oder bei jenen, die seit der Unabhängigkeit von Frankreich dort durchregieren und auf das „Volk“ schießen lassen?

Die heile Welt der Urahnen

Das wäre eine Überlegung wert gewesen. Stattdessen pures Ressentiment: „Die Verwestlichung Afrikas ist seit seiner Kolonisierung im Gange: Amtssprachen, Bildungssysteme, Verwaltung, Wirtschaftsordnung und Institutionen haben auf dem afrikanischen Kontinent allesamt westliche Formen angenommen.“ Will Sarr tatsächlich die Qualität demokratischer Gesellschaftsformen etwa danach beurteilen, ob sie ein Grieche, Römer oder Senegalese formuliert hat? „Der Homo africanus ist kein Homo oeconomicus im strengen Sinn“, sagt Sarr weiter.

Felwine Sarr: „Afrotopia“. Übersetzung von Max Henninger. Matthes & Seitz, Berlin 2019, 176 S., 20 Euro

„Die Motive seiner Entscheidungen sind geprägt von Logiken der Ehre, der Umverteilung, der Subsistenz und der Gabe beziehungsweise Gegengabe.“ Die heile Welt der Urahnen, sie ist eine kitschige Vorstellung trotz des europäischen Kolonialismus. „Die traditionellen afrikanischen Gesellschaften zeichneten sich dadurch aus, dass Produktion, Verteilung und Güterbesitz von einer Sozialethik bestimmt waren, deren Ziel darin bestand, allen die Grundlagen des Lebens zu garantieren.“ Würde er anfügen, „allen, bis auf jene, mit denen man verfeindet war“, käme er der Sache deutlich näher. Denn nicht einmal der – verbrecherische – Sklavenhandel wäre ohne Mitwirkung von Afrikanern möglich gewesen.

Sich der Verantwortung und Schuld kolonialer Verbrechen zu stellen, heißt noch lange nicht, die globalisierten und gemischten Realitäten rückgängig machen oder ignorieren zu wollen. Der Karneval im namibischen Windhoek gehört heute ebenso zum Straßenbild wie der von Notting Hill in London. Es sind die zwei Seiten einer kosmo­politischen Medaille, die jedoch bei europäischen Populisten wie afrozentrischen Chef-Intellektuellen gleichermaßen schlecht im Kurs ­stehen.

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