Bilderreportage über Fukushima: Das atomgespaltene Leben

Drei Jahre nach der Katastrophe spannt „Fukushima 360°“ einen Bogen von Hiroshima über die japanische Atomlobby bis hin zur Anti-AKW-Bewegung.

Strahlende Schönheit. Bild: Alexander Neureuter

BERLIN taz | Ein Meer prächtiger gelber Stiefmütterchen inmitten einer leuchtend grünen Wiese. Frühling, Wachstum, Leben. Dazwischen, ebenfalls in gelb und deshalb kaum zu erkennen: ein kleines Gerät mit Plastikmantel. So unscheinbar es ist, zerstört es beim genauen Hinsehen doch die Idylle des Bildes.

Es handelt es sich um einen Geigerzähler, seinen Dienst tut er im Kaiseizan-Park in Koriyama, einer Stadt in der japanischen Präfektur Fukushima. Der Park wurde seit der Atomkatastrophe von 2011 aufwändig dekontaminiert und gilt offiziell wieder als sicher. Trotzdem zeigt das Messgerät zwanzigmal höhere Strahlungswerte an als vor der Atomkatastrophe.

Der Geigerzähler im Beet wurde von Alexander Neureiter abgelichtet. Drei Jahre sind seit dem Erdbeben und dem daraus entstandenen Tsunami vergangen, in dessen Folge es zur Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi kam. 2013 verbrachte der Fotojournalist drei Wochen in Japan, um den Alltag der Menschen in der Präfektur Fukushima zu dokumentieren. Aus mehr als 17.000 Fotos und 87 Interviews entstand so das Buch „Fukushima 360° - das atomgespaltene Leben der Opfer vom 11. März 2011“.

Alexander Neureuter: „Fukushima 360° – das atomgespaltene Leben der Opfer vom 11. März 2011“. Gartow 2014, 204 Seiten, 29,80 Euro.

Eine Bilderstrecke mit einer Auswahl der beeindruckensten Fotos finden Sie hier.

Ein Titel, der einen reißerischen Katastrophenbericht erwarten lässt. Tatsächlich handelt es sich bei dem Bildband aber um einen einfühlsamen und differenzierten Versuch, das Unglück in einen Kontext einzubetten. Neureiter spannt den Bogen von den Atombombenabwürfen in Hiroshima und Nagasaki über die aufstrebende Atomlobby in Japan bis hin zur neu entstandenen Anti-AKW-Bewegung im Land. Er erklärt, wie Japan nach den schrecklichen Erfahrungen der Atombombe zum drittgrößten Produzenten von Atomenergie weltweit wurde, und warum sich jahrzehntelang weder in der Politik noch in den Medien ein echter Widerstand dagegen etablieren konnte.

Dabei lässt der Journalist viele unterschiedlicher Menschen zu Wort kommen. Der ehemalige Fernsehserienheld und jetzige Politiker Taro Yamamoto berichtet von den Protestmärschen auf der Straße, für japanische Verhaltensregeln typisch in ordentlichen Dreierreihen. Der Journalist Takashi Uesugi erklärt, wie die japanischen Medien, die Wirtschaft und auch die Wissenschaft finanziell auf die großen Investitionen Tepcos angewiesen waren und wie das jede kritische Berichterstattung unterband.

Grenzwerte kann man verändern

Der Leser erfährt, wie die japanische Regierung die maximal zulässige Strahlenbelastung von einem auf 20 Millisievert im Jahr hochsetzte, um verstrahlte Gebiete wieder freizugeben und die Zahl der zu evakuierenden Menschen möglichst klein zuhalten – in Deutschland sind 20 Millisievert der Maximalwert für AKW-Mitarbeiter mit Schutzkleidung und besonderer Ausbildung.

Wer verstörende Bilder von zerstörten Wohnhäusern oder Ruinen des Kraftwerks sehen will, der sucht sie in Neureuters Bildband vergeblich. Ein Obstgarten voller Nashi-Birnbäume, Reisfelder, die Skyline von Tokio. Dazwischen die Portraits der Menschen, die der Fotograf auf seiner Reise getroffen hat, und immer wieder der Geigerzähler. Es sind die Texte neben den Bildern, die die Botschaft des Buches verdeutlichen: Die Strahlung ist eine unsichtbare Gefahr. Ungefährliche Strahlung gibt es nicht, nur vom Menschen festgesetzte Grenzwerte, die eine „gesellschaftlich akzeptabel erscheinende Anzahl von Strahlenkranken und Strahlentoten“ festlegen.

Es geht in dem Buch darum, wie die Katastrophe das Dasein zahlreicher Menschen für immer verändert hat. „Manchmal denke ich, dass Tepco nicht nur die Atome, sondern auch unser Leben gespalten hat“, sagt Akemi Shima. Die Strahlenbelastung bestimmt noch immer jede Minute des Alltags der 38-jährigen Mutter. Ein Alltag, in dem Atemmaske und Geigerzähler selbstverständlich geworden sind.

Mahnung an uns alle

Die zierliche Frau steht mit ihrer Tochter im Supermarkt und begutachtet kritisch einen Maiskolben. Ihre Tochter trägt einen weißen Mundschutz. Shima berichtet von der Verunsicherung, die jede noch so kleine Frage begleitet. Sei es die nach der Herkunft des Gemüses, oder wie lange ihre Kinder draußen auf der Straße spielen dürfen.

Und schließlich geht es in „Fukushima 360°“ um die Zukunft. „Fukushima ist eine deutliche Mahnung an uns alle, denn immer noch gibt es weltweit 437 Atomreaktoren in 21 Ländern, auch in unserer Nachbarschaft“, schreibt Neureuter in den letzten Absätzen seine Reportage. Er fragt, wie man nach den Erfahrungen aus Harrisburg, Tschernobyl und Fukushima noch immer an der Behauptung festhalten kann, dass unkontrollierbare Kernschmelzen rechnerisch „eigentlich unwahrscheinlich“ seien.

Seine Reportage verdeutlicht, dass in Japan die Gesundheit von Tausenden Menschen keine Rolle spielt, wenn es um wirtschaftliche Interessen geht. Er zeigt die Schicksale der Menschen, die aus dem Umkreis des AKW evakuiert wurden und nun in kleinen Containern auf engstem Raum leben. Und er hält fest: „Zumindest können wir nicht mehr ruhigen Gewissens behaupten, wir hätten von den wahren Auswirkungen einer Atomkatastrophe nichts gewusst.“

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