Bildband zur Bewegung 2. Juni: 40 Jahre später

Arwed Messmer hat zur Entführung von Peter Lorenz und der Bewegung 2. Juni unbeachtete Negative aus dem Berliner Polizeiarchiv gesichtet.

2. März 1975, ein Flugzeug auf dem Flughafen Tegel

012 AM_PHS_SCHUPO_Film_4834_Neg_16a PHS Sammlung Lorenz, Filmnummer 4834 Am 2. März 1975 starteten die Freigepressten in Richtung Jemen Foto: Tableau/Arwed Messmer

Fotografen, Kameramänner und Polizisten dominieren auf den ersten Seiten des Buches „Zelle/Cell“. Die Uniformierten, den Schlagstock in der Hand, tragen Körper weg, zerren an Armen, Füßen und Beinen, als wollte jeder ein Stück haben von dem, der in ihrem Griff kaum zu sehen ist. Die Fotografen halten Kamera und Blitzlicht hoch. Sind das Bilder einer Übung, Demonstration von Polizeistärke, inszeniert für die Fotografen?

Man muss in Arwed Messmers Bildband „Zelle/Cell“ bis zum Appendix auf den hinteren Seiten blättern, um etwas über die Herkunft der Bilder zu erfahren. Sie stammen aus einer Eigendokumentation der Berliner Schutzpolizei, entstanden am 2. Juni 1967, bei jener Demonstration gegen einen Schahbesuch, die mit dem tödlichen Schuss auf Benno Ohnesorg endete. Man wundert sich heute, wie unverhohlen sie Polizeigewalt zeigen und die um sie tänzelnden Fotografen.

Arwed Messmer hat die Bilder vom 2. Juni als Prolog ausgesucht. Den größten Teil seines Buches machen Fotografien von 1975/76 aus, entstanden während der Fahndung nach den Entführern von Peter Lorenz, die sich „Bewegung 2. Juni“ nannten. Gefunden hat er das Material in der Polizeihistorischen Sammlung Berlin. Es ist Gebrauchsfotografie, entstanden als Mittel der Dokumentation, Beweissicherung und der topografischen Vergewisserung. Man weiß das bald beim Anschauen des Buches. Und vergisst doch beim Vor- und Zurückblättern, dass man hier Arbeitswerkszeuge der Polizei betrachtet. Und wird stattdessen getriggert von unterschiedlichen Sensationen der Erinnerung.

Westberlin in all seiner Hässlichkeit. Ein trostloser Park, nachts die kahlen Bäume im Blitzlicht. Schaut man anders darauf, wenn man dies als Tatort sieht, wo das Entführungsopfer nach sechs Tagen freigelassen wurde? Altbauwohnungen, in Rot, Orange und Lila kämpfen großgemusterte Tapeten gegen das triste Nachkriegsmobiliar. Die Farben der Hippiezeit, von den alten Negativen jetzt digital reproduziert, irritieren das Zeitgefühl. Sind das wirklich 40 Jahre (ein halbes Menschenleben) alte Bilder?

Der Blick bleibt an politischen Plakaten hängen, zoomt sich nah ran an eine Wand voller Fotos, Porträts, vielleicht Ulrike Meinhof? Interessant auch, was dort, 1975, an Büchern über Kybernetik und Computertechnik im Regal steht. Man entfaltet selbst eine detektivische Lust, in den Details zu lesen. Nicht weil man, wie die Polizeifotografen damals, nach Verdächtigen im Unterstützerumfeld sucht, sondern weil ein Milieu, eine den Aufbruch suchende Generation darin sichtbar wird.

Arwed Messmer ist selbst Fotograf. Eigene Bilder zeigen die Kartons, in denen er dies Konvolut fand – „Vernichtung“ hat jemand darauf geschrieben –, oder ein Pappmodell, das er wie eine moderne Skulptur fotografiert hat – es bildet das Versteck von Peter Lorenz nach. Wie der CDU-Politiker dort auf einer Matratze saß, das Schild „Peter Lorenz – Gefangener der Bewegung 2. Juni“ um den Hals, gehört zu den wenigen wiedererkennbaren Bildern in dem Buch, vielfach reproduziert, zur historischen Chiffre geworden in der Geschichte der BRD und des Linksterrorismus.

Geschichte mit Gesicht

Aber es ist kein journalistisches Interesse, das Messmer bei seinen Recherchen in Archiven antreibt, auch nicht das eines Historikers. Ihn interessiert die Ästhetik von visueller Information, was ein Bild früher aussagte und was es jetzt erzählt, wie sich verändert, was man sieht, weil wir uns verändern. Er nimmt die Bilder aus dem Kontext, gruppiert sie nach visuellen Zusammenhängen, bringt Rhythmus und Struktur hinein durch den Wechsel von Farbe und Schwarz-Weiß, Detail und Übersicht. Verstreut dazwischen grobkörnige Observationsaufnahmen, mit dem Teleobjektiv zwischen Gardinen, die gleich einen Thriller im Kopf anwerfen. Der politische Fall, der wie ein Monolith aus der Erinnerung an die Zeit aufragte, sinkt zurück in eine Textur des Alltags.

Arwed Messmer: „Zelle/Cell“, Hatje Cantz Verlag, Berlin 2016, 212 Seiten, 45 Euro.

Man weiß beim Anschauen dieses Buches nicht immer, was man sieht. Manche Bilder gar, damals schnell entwickelt und nicht gut fixiert, lösen sich auf. Der chemische Zerfall lässt die Zeit ins Bild eintreten.

„Zelle/Cell“ ist nicht das erste Buch, in dem Arwed Messmer mit oftmals vergessenen Archivbildern der Geschichte wieder ein Gesicht gibt. Erinnerung muss immer wieder neu justiert werden, Vergangenheit ist eine fragile Konstruktion. Von der Rolle der Bilder in diesem Prozess erzählen Messmers Bücher.

Alle Fotos: © Tableau/Arwed Messmer unter Verwendung von Fotografien aus der Polizeihistorischen Sammlung Berlin (Sammlung Lorenz).

Arwed Messmer hat aufgrund von vorhandenen Informationen für die Bilder folgende Signaturen entwickelt: PHS für Polizeihistorische Sammlung / Tgb für Tagebuch oder Filmnummer / mod für digital verändert / AM für Arwed Messmer. Zur Bildergalerie

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