Berliner Szenen: Und schließlich die komplett Irren

Die allerletzte Veranstaltung im ICC ist eine perfekte Wahnsinnsinszenierung deutscher Konzernkultur: Die Jahreshauptversammlung der Daimler AG.

Bühnenbild mit Riesenpolygon: Dieter Zetsche bei seiner Rede. Bild: dpa

Der Stimme von Dr. Bischoff kann niemand entkommen. Die alte Technikanlage des ICC gibt noch einmal, ein letztes Mal, alles, der hypnotische Sitzungsleiter-Paragrafen-Singsang flutet die unzähligen Gänge und Zwischengeschosse, bis auf die Toiletten verfolgt er einen.

Dr. Bischoff ist der Aufsichtsratsvorsitzende der Daimler AG, ein Mann mit buschigem Schnauzer und sauberem Scheitel, er leitet die Aktionärshauptversammlung seines Konzerns. Ich bin hier eigentlich nur hierhergekommen, um zum allerletzten Mal vor der Stilllegung in //www.taz.de/Das-ICC-in-Berlin-macht-dicht/!134509/:das Retrofuturismus-Raumschiff ICC einzutauchen. Aber sofort bin ich gefangen von dieser perfekten Wahnsinnsinszenierung von Konzernkultur, verstehe komplett, warum Rimini Protokoll vor fünf Jahren Theaterzuschauer mit geliehenen Aktien hier hineingeschleust und sie dann zwischen Tausenden Kartoffelsalat essenden Kleinaktionären sich selbst überlassen haben.

Das Bühnenbild in Saal 1 ist ein graues Riesenpolygon, davor sitzen Bischoff und der Vorstand, hinter ihnen über 20 schweigende Aufsichtsräte, jeder am eigenen Pult, und dahinter Menschen an Schreibtischen, die live auf der Bühne die Fragen der Aktionäre bearbeiten. Denn jeder, der auch nur eine einzige Daimler-Aktie hält, hat die Möglichkeit, an den offenen Saalmikrofonen zehn Minuten zu reden.

Da kommen erst die Sprecher der großen Anlegervereine und Fonds, professionelle Stammgäste, die vorbereitete Reden voller Pointen halten. Dann folgen die kritischen Aktionäre, sie stellen Fragen zu Frauenquoten und Daimlers Militärfahrzeuggeschäft. Anschließend dürfen die Kleinaktionäre sprechen und schließlich die komplett Irren. Ein alter Mann erzählt fünf Minuten lang von einem Lackschaden an seinem Daimler-Jahreswagen, der ihm einst 9.000 D-Mark Verlust gebracht hat.

„Ich bin traumatisiert“, sagt er.

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Jahrgang 1980, lebt in Berlin und ist Redakteur der Wochentaz und dort vor allem für die Genussseite zuständig. Schreibt Kolumnen, Rezensionen und Alltagsbeobachtungen im Feld zwischen Popkultur, Trends, Internet, Berlin, Sport, Essen und Tieren.

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