Berliner Modellprojekt: Helfen ohne Druck

Modellprojekt „Housing First“ gestartet: Obdachlose sollen fast ohne Vorbedingungen in eine eigene Wohnung ziehen. Noch allerdings fehlen die Wohnungen.

Obdachloser im Tiergarten Foto: dpa

Wenn alles nach Plan läuft, dann könnten Obdachlose, die heute noch auf Parkbänken oder unter Brücken schlafen, bald in eine eigene Wohnung ziehen. Das ist jedenfalls das Ziel des Modellprojekts „Housing First“, das Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linkspartei) am Montag gemeinsam mit den beteiligten Trägern vorstellte. Anders als im bisherigen Hilfesystem müssen sich die Obdachlosen eine Bleibe nicht erst durch kooperatives Verhalten verdienen. Die eigene Wohnung soll die Menschen so stabilisieren, dass sie anschließend Hilfsangebote annehmen und ihre Lage verbessern können.

Das Modellprojekt ist zunächst auf drei Jahre angelegt. In dieser Zeit will der Sozialdienst katholischer Frauen, der auch den Treffpunkt Evas Haltestelle betreibt, 30 oder mehr Plätze für weibliche Obdachlose einrichten. Mit 40 Housing-First-­Wohnungen für Männer und Frauen plant die Stadtmission zusammen mit der gemeinnützigen Hilfsorganisation Neue Chance. Die Miete soll – wie bei anderen TransfergeldempfängerInnen – das Jobcenter oder das Sozialamt übernehmen. Hier gelten die üblichen Richtwerte: Demnach darf die Bruttokaltmiete höchstens 485 Euro betragen.

Das Problem: Zur Verwirklichung des Projekts fehlen bislang noch die Wohnungen. Breitenbach sagte, sie würde sich wünschen, dass die landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften mitmachten. Zusagen gibt es dafür bislang aber nicht. Die Sozialsenatorin appellierte am Montag deshalb an das soziale Gewissen von privaten Wohnungseigentümern. „Wir suchen mutige Vermieterinnen und Vermieter, die dieses Projekt begleiten und für die Stadt etwas Gutes machen“, sagte Breitenbach.

Housing First heiße nicht Housing only, betonte Ingo Bullermann, Geschäftsführer der Neuen Chance. Die Menschen sollen im Modellprojekt eng betreut werden: Insgesamt zehn Stellen für SozialarbeiterInnen, Hauswirtschaftskräfte und für die Immobiliensuche richten die Träger ein. Der Senat hat in diesem Jahr 195.000 Euro im Haushalt für das Projekt eingeplant, 2019 sind es 580.000 Euro.

Zahlen Schätzungen zufolge sind 40.000 Menschen in Berlin ohne eigene Bleibe, 4.000 bis 6.000 leben als Obdachlose auf der Straße. Viele Osteuropäer sind darunter, sie haben oft keinen Anspruch auf Sozialleistungen und können deshalb nicht bei Housing First mitmachen.

Hilfesystem Am Mittwoch lädt die Sozialverwaltung zur zweiten Strategiekonferenz der Wohnungslosenhilfe. Da geht es um die Frage der Statistik, aber auch um wohnungslose Familien und die medizinische Versorgung. (all)

Auch um den regelmäßigen Eingang der Miete kümmerten sich die Träger, sagte Bullermann. „Wir schaffen Sicherheit.“ Die Obdachlosen, die eine Wohnung bekommen, müssten eine Haftpflicht- und Hausratsversicherung abschließen. Zusätzlich gebe es einen Fonds, aus dem Vermieter mögliche Schäden bezahlt bekämen, so Bullermann.

Zur Idee von Housing First gehört allerdings, dass die Menschen selbst bestimmen, welche Hilfen sie annehmen und welche nicht, und auch, ob sie die SozialarbeiterInnen überhaupt in ihre Wohnung lassen. Die Betroffenen können beispielsweise auch weiter Alkohol trinken. „Um in einer eigenen Wohnung zu wohnen, muss man nicht zwingend abstinent sein“, so Bullermann. Elke Ihrlich vom Sozialdienst katholischer Frauen sagte, die Menschen sollten in einer Wohnung „wieder ein Leben finden, das ihnen passt“. Das müsse aber nicht mit dem übereinstimmen, was SozialarbeiterInnen gut fänden.

Tatsächlich stellt Housing First im Hilfesystem einen Paradigmenwechsel dar: Bisher wird versucht, die Menschen in kleinen Schritten wieder an ein geregeltes Leben heranzuführen: Ein im Heim lebender Wohnungsloser muss beispielsweise erst sein Drogenproblem in den Griff bekommen, bevor er in eine eigene Wohnung ziehen darf. Viele kommen mit solchen Anforderungen nicht klar und gehen lieber wieder auf die Straße. „Es gibt Menschen, die am bestehenden Hilfesystem gescheitert sind“, sagte Breitenbach. Genau an sie soll sich Housing First richten – in der Hoffnung, die Menschen ohne Druck letztlich besser zu erreichen.

Zu Housing First gehört, dass die Menschen selbst bestimmen, welche Hilfen sie annehmen

Anderswo hat das offenbar bereits funktioniert: Housing First werde in Nordamerika, aber auch in anderen europäischen Städten erfolgreich angewendet, berichtete Bullermann. Ob sich die Menschen psychisch stabilisiert oder gar einen Job gefunden haben, konnte er nicht sagen. „Man misst den Erfolg am Wohnungserhalt“, so Bullermann. Der jedenfalls klappte gut: 80 bis 95 Prozent der ehemals Obdachlosen hätten auch nach zwei bis vier Jahren noch in ihrer Wohnung gelebt.

Die Sozialverwaltung lässt das Projekt wissenschaftlich begleiten. Wer mitmacht, muss unterschreiben, dass er oder sie sich an der Evaluation beteiligt. „Nach drei Jahren müssen wir gucken, wie die Ergebnisse sind“, sagte Breitenbach. Wenn das Projekt auch nur annähernd so erfolgreich sei wie in anderen Ländern, dann werde es sicher weiter geführt – vorausgesetzt, es finden sich genügend Wohnungen.

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