Berlinale – Interview mit Florian Kunert: „Beide haben ihre Heimat verloren“

„Fortschritt im Tal der Ahnungslosen“: Florian Kunert bringt syrische Asylbewerber mit ehemaligen DDR-Bürgern zusammen.

Ein mann mit Vollbart steht vor einer schwarzen Mauer

Florian Kunert am Rande der Berlinale Foto: Sebastian Wells/Ostkreuz

Syrische Asylbewerber landen in der Sächsischen Schweiz, zu Zeiten der DDR ein „Tal der Ahnungslosen“ ohne Empfang von Westfernsehen, und werden im ehemaligen Wohnheim des Kombinats Fortschritt Landmaschinen untergebracht. Der in der Sächsischen Schweiz geborene Filmemacher Florian Kunert nutzt diese zufällige Konstellation für einen experimentellen Dokumentarfilm, in dem er die DDR-Vergangenheit mit ungewohnten Mitteln aufarbeitet.

taz: Herr Kunert, Ihr Film handelt, vereinfacht gesagt, von syrischen Asylbewerbern im ehemaligen „Tal der Ahnungslosen“. Wie wurde das Thema für Sie ein Filmstoff?

Florian Kunert: Der Auslöser war für mich, als die Pegida-Demonstrationen 2015 losgingen. Ich hatte mich gefragt, warum es diese heftige emotionale Reaktion gibt. Und dann hatte ich das Asylbewerberheim in meiner Heimatstadt besucht. Das war im ehemaligen Kombinat Fortschritt, in den einstigen Wohnstätten.

In Neustadt in Sachsen.

Ich kannte den Ort schon, als ich ein Kind war, hatte aber sehr wenig Wissen über ihn. Ich wusste, da gab es irgendwas mit „Fortschritt“. Die Hälfte meiner Familie hat dort gearbeitet, aber es wurde sehr wenig erzählt. Und dann haben die Asylbewerber mir Fragen gestellt, was das für ein Ort ist. Das Gebäude sah aus, als sei es im Krieg zerstört worden, es war alles schon ruinös. Es hat sie auch an ihre Heimat erinnert. Dann habe ich gemerkt: Ich muss mal recherchieren, damit ich auch Antworten habe. Und gleichzeitig habe ich an diesen unterschiedlichen Perspektiven auf diesen Ort gemerkt, dass hier eine Chance liegt, etwas im Film zu erzählen. „Fortschritt“ ist sozusagen der Schnittpunkt.

Sie wurden 1989 in der DDR geboren. Aufgewachsen sind Sie im vereinten Deutschland. War die DDR für Sie schon gar nicht mehr so präsent?

wurde 1989 in Sebnitz geboren, studierte Dokumentarfilmregie in Kuba und danach an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Sein Film „Oh Brother Octopus“ lief 2017 im Programm der Berlinale Shorts. „Fortschritt im Tal der Ahnungslosen“ ist sein erster Langfilm.

Doch, aber ich habe mich halt gefragt, warum und in welcher Form. Die Recherche zu dem Film war für mich sehr erkenntnisreich, weil ich viele prägende Emotionen plötzlich verstehen und zuordnen konnte. Denn dieser generationsübergreifende Prozess, wie Erinnerungen an die nächste Generation weitergegeben werden, der findet zwar die ganze Zeit statt. Aber wenn man nicht selbst die Erfahrung gemacht hat, in der DDR gelebt zu haben, dann weiß man gar nicht, wohin damit. Das ist ein bisschen das Schicksal dieser Generation, die um 89 geboren ist.

Im Film überlagern sich zwei Arten von Verlust: Die syrischen Protagonisten mussten aus ihrem Land fliehen, die älteren Bewohner der Sächsischen Schweiz verloren ihre bisherige „Heimat“, als die DDR der Bundesrepublik beitrat. Hatten Sie diese beiden Ebenen von Anfang an als Dialog geplant?

Ehrlich gesagt, war das etwas, das sich im Herstellungsprozess des Films ergeben hat. Am Anfang standen diese unterschiedlichen Sichtweisen auf die Vergangenheit, vor allem weil die Syrer plötzlich ihre andere Konditionierung mit in diese Gegend gebracht hatten.

Man erfährt zugleich, dass die DDR wirtschaftliche Beziehungen zu Syrien unterhielt.

Dadurch, dass zudem eine Beziehung zwischen Syrien und der DDR bestand und es „Fortschritt“ (d. h. deren Landmaschinen, Anm. d. Red.) auch in Syrien gab, fiel mir auf: Da verzahnt sich die DDR mit der Arabischen Republik Syrien von damals auf eine Art und Weise, sodass das Archivmaterial aus der Zeit heute eine ganz andere Bedeutung bekommt. Das habe ich dann als Narrative für den Film verwendet.

15. 2., 19.30 Uhr, CinemaxX 6,

17. 2., 19.30 Uhr, Delphi Filmpalast

Etwa alte Werbefilme für das Kombinat Fortschritt.

Oder die „Aktuelle Kamera“, die den Staatsbesuch von Hafis al-Assad in der DDR zeigt. Erich Honecker war auch in Syrien zu Besuch. Das ist ganz krasses Material, wenn man sich das heute anschaut. Das hat ja jetzt eine ganz andere Bedeutung als vor dem Bürgerkrieg in Syrien. Und die macht der Film sich narrativ zunutze. Ohne direkt den Heimatverlust von Syrien und der DDR zu vergleichen. Der Film stellt beides nebeneinander und verzahnt es auf eine Art und Weise, sodass man darüber nachzudenken beginnt: Irgendwie haben die ja beide ihre Heimat verloren. Was heißt denn das? Für mich war die Idee, zu sagen: Hey, die DDR-Bürger haben irgendwie auch eine Migration ohne Bewegung hinter sich und mussten sich integrieren, in einem neuen Land zurechtfinden, orientieren.

Ein komischer Aspekt des Films ist, dass Sie die Syrer an DDR-Reenactments teilnehmen lassen. Sie bekommen Staatsbürgerkunde oder werden in Uniformen gesteckt. Wie haben die Beteiligten diese Form der „Aneignung“ erlebt?

Es war für alle eine Überraschung, als sie zum Set kamen. Ich hatte sie zwar vorbereitet, aber niemand konnte genau wissen, was passiert, weil es ein Experiment war. Die ehemaligen DDR-Bürger haben natürlich eine ganz andere Reaktion auf diese Dinge gehabt, weil sie das kannten, es hat bestimmte Erinnerungen hervorgerufen und damit eine gewisse Sprache. Das war Sinn und Zweck dieser Reinszenierung: ein Setting zu schaffen, in dem es für die Darsteller schwierig wird, verfestigte, althergebrachte Narrative zu erzählen.

Welche genau?

Wenn man einen ehemaligen DDR-Bürger fragt, wie es damals war, dann kommt ein Satz, den hat er tausendmal gesagt. Und das ist ziemlich langweilig. Wie kann man da Mittel im Film finden, um seine anderen archivierten Erinnerungen anzuzapfen? Das passiert einfach durch diese Situation, die wir geschaffen haben.

Und wie sah es bei den Syrern aus?

Für die syrischen Darsteller war es eine Chance, die Vergangenheit oder das Spezielle dieses Orts, an den sie verpflanzt wurden, zu begreifen – tiefer zu begreifen als in diesem Orientierungskurs, den sie als Asylbewerber machen müssen. Da lernen sie ja auch über die NS-Zeit und die DDR. Dass an diesem Ort etwas anders ist als im Rest der Bundesrepublik, merken sie im Dialog mit ihren Freunden, die im Westen oder außerhalb Sachsens gelandet sind.

Wo sind die syrischen Darsteller heute?

Traurigerweise sind alle weggezogen. Der Hassan (ein Darsteller, Anm. d. Red.) hat bei der Premiere auch klipp und klar gesagt: Wir haben aus dieser Zeit ganz viele Freunde und tolle Erinnerungen, aber wir haben auch ganz viele richtig hässliche Erfahrungen gemacht.

Das Thema Rassismus kommt im Film eher am Rand vor.

Ich mache ja eine ganz konkrete Erinnerungsarbeit. Dafür brauchte ich eine gewisse Bereitschaft der Darsteller. Wenn ich etwa mit Pegidisten gearbeitet hätte, die ich auch in der Recherche interviewt habe, dann wäre ich wohl auf wenig Bereitschaft und verhärtete Ansichten gestoßen. Diese Offenheit, sich so einer Erinnerungsarbeit hinzugeben, wie es die Darsteller gemacht haben, wäre nicht dagewesen. Der Film hingegen konzentriert sich auf eine ganz spezielle Gruppe von Menschen und einen speziellen Aspekt der DDR, den ich so noch nicht repräsentiert gesehen habe.

Gab es ablehnende Reaktionen?

Ich glaube, dass niemand so richtig verstanden hat, was ich eigentlich wollte. Die meisten haben wohl geglaubt: Der Florian macht jetzt so einen Historienfilm über „Fortschritt“. Deswegen war es interessant, dass wir ein Screening vor der Premiere in Neustadt hatten, um es den Neustädter Darstellern zu zeigen. Der Kinosaal war voll. Nach dem Film wurde detailliert diskutiert über die einzelnen Szenen. Man musste danach darüber reden. Und das war genau, was ich mir gewünscht hatte: diesen Diskurs wiederaufleben zu lassen und neue Blickwinkel einzubringen. Auch nach der Premiere hat man gesehen: Manche müssen sofort ihre Meinung raushauen. Irgendwas macht der Film, und es freut mich, dass das funktioniert. Wir haben anderthalb Jahre daran herumgeschnitten, um so etwas möglich zu machen.

Haben Sie bei der Arbeit am Film viel über die Lage in Syrien gesprochen?

Ja, auf jeden Fall.

Es ist aber einfach nicht Thema des Films.

Nein, und das wird oft missverstanden. Weil viele Zuschauer die Syrer im Film als Protagonisten suchen. Die finden sie aber nicht. Die Asylbewerber haben uns viel über ihre Flucht erzählt. Das ist aber ein ganz anderer Film. Die Syrer waren in dem Sinn keine Prot­agonisten, sie sind Co-Researcher gewesen. Ich sehe sie mehr auf meiner Seite hinter der Kamera, die dabei geholfen haben, die Erinnerungsarbeit mit den ehemaligen DDR-Bürgern zum Laufen zu bringen. Der Fokus des Films ist ganz klar diese deutsche Vergangenheit. Wenn man hingegen einmal anfängt, von den syrischen Geflüchteten zu erzählen, interessiert sich niemand mehr für die DDR – einfach, weil das viel krassere Schicksale sind.

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