Autorin Ekvtimishvili über Georgien: „Frauen ertragen den Stillstand nicht“

Georgien ist das diesjährige Gastland der Frankfurter Buchmesse. Junge Autorinnen wie Nana Ekvtimishvili streben nach Europa.

Die Autorin Nana Ekvtimishvili

Nana Ekvtimishvili stellt auf der Buchmesse ihren Roman „Birnenfeld“ vor Foto: Eva-Christina Meier

taz am wochenende: Frau Ekvtimish­vili, Ihr Romandebüt „Das Birnenfeld“ erscheint jetzt zur Frankfurter Buchmesse in deutscher Übersetzung im Suhrkamp Verlag. Sie erzählen von der fast erwachsenen Lela und ihren jüngeren Mitschülern. Sie wachsen am Rande von Tbilissi in einer sogenannten Debilenschule auf, einem Internat für lernbehinderte Kinder. Was für eine Welt beschreiben Sie da?

Nana Ekvtimishvili: Vor allem eine vergessene. Ich bin in Tbilissi ganz in der Nähe von einem Kinderheim aufgewachsen. Uns trennte nur ein Zaun, die Höfe der Häuser stießen aneinander. Ich bin mit diesen Kindern groß geworden. Wir haben zusammen gespielt. Und trotzdem schienen sie für die Erwachsenen unsichtbar zu sein.

Welchen historischen Moment skizzieren Sie in der Geschichte über das Kinderheim?

Nach 70 Jahren Kommunismus hatte sich die Sowjetunion aufgelöst. Die Entwicklung in Georgien Mitte der neunziger Jahre war chaotisch und richtungslos. Es gab bürgerkriegsähnliche Zustände. Das Rechtssystem funktionierte nicht. Selbst in meiner Schule sind wir irgendwann nicht mehr zum Unterricht gegangen. Doch von der Außenwelt komplett übersehen wurden Kinder, die in Einrichtungen gingen wie jene, von der mein Buch erzählt.

Nana Ekvtimishvili: 1978 in Tbilissi geboren. Studierte an der Filmhochschule in Potsdam-Babelsberg. Mit Simon Groß drehte sie die Spielfilme „Die langen hellen Tage“ (2013) und „My Happy Family“ (2017). Sie lebt in Tbilissi und Berlin.

Das Buch: „Das Birnenfeld“, 2015 in Georgien erst veröffentlicht, ist ihr erster Roman. Es ist jetzt im Herbst 2018 auf Deutsch im Suhrkamp Verlag erschienen. Aus dem Georgischen übersetzt von Juliane Deng und Ekaterine Teti, 221 Seiten, gebunden, 16,95 Euro.

Sie beginnen Ihren Roman mit einem historischen Exkurs über die ukrainische Stadt Kertsch. Die wurde von der deutschen Wehrmacht zerstört und später vom Stalinismus beherrscht. Dieser Ort gab der Straße, in der Ihre Geschichte spielt, den Namen. Worum wählten Sie diesen Einstieg?

Diese Schule ist für mich wie ein Relikt der Sowjetunion. Was dort passiert, ist eine Fortsetzung der Unmenschlichkeit totalitärer Systeme. Wie geht man mit den Schwachen und Bedürftigen um? Es war mir wichtig, diesen Ort konkret zu benennen. Denn: Das ist Georgien, das ist Tbilissi, das ist ein Randbezirk von Tbilissi. In Georgien kämpfen wir uns nicht nur physisch an den Hinterlassenschaften der Sowjetunion ab, sondern auch mit den Werten, die dageblieben sind.

Der Roman verfolgt das Leben der heranwachsenden Lela. Sie ist von emotionaler Härte, von Missbrauch und Hass geprägt – aber auch von großem Verantwortungsbewusstsein, Fürsorge und Zärtlichkeit. Was hat Sie an der Darstellung emotional so konträrer Erfahrungen interessiert?

„Das Birnenfeld“ ist nicht der Versuch, die Lage dieser vergessenen Kinder begreifbar zu machen. Sie wurden misshandelt, betrogen und verlassen. Für sie gibt es keine Eltern, keine Lehrer oder Vorbilder, die ihnen etwas ­geben würden. Dennoch sind sie in der Lage zu lieben. Obwohl es angesichts der Härte jeder Gesetzmäßigkeit zu widersprechen scheint, kann ich mich an dieses Licht in den Augen der Kinder erinnern. Von diesem Widerspruch wollte ich erzählen.

Um ihrem Schützling Irakli den Englischunterricht für seine bevorstehende Adoption in die USA zu bezahlen, lässt sich Lela auf bezahlten Sex mit Koba, einem Nachbarn, ein. Doch beim zweiten Treffen am Waldrand erlebt sie überraschend einen Orgasmus. Als Lela Koba danach das Geld zurückgeben will, rastet der aus und schlägt sie zusammen. Als was für einen Menschen sehen Sie Lela?

Sie ist ein freies Wesen, selbst wenn sie in ihrer Freiheit eingeschränkt im Internat leben muss, kein Geld hat und sich verkaufen muss. Niemand hat ihr beigebracht, wie sie auf Gewalt und Erniedrigung reagieren soll. Doch sie hat die Kraft, im richtigen Moment Schwarz von Weiß zu unterscheiden und sich zu verteidigen. Sie kennt das Leben am Rande der Gesellschaft. Sie hat nichts zu verlieren. Inzwischen ist sie 18 Jahre alt und unter den Kindern die Stärkste im Internat. Und sie hat einen Plan.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

In Deutschland sind Sie vor allem als Filmemacherin bekannt. Ihre ­Spiel­filme „Die langen hellen Tage“ und „My Happy Family“ wurden 2013 und 2017 im Forum der Berlinale gezeigt. Beide Produktionen realisierten Sie zusammen mit Ihrem Partner Simon Groß. Wieso entstand dazwischen ein Buch?

Zum Film bin ich eigentlich durchs Schreiben gekommen. Es gab ein paar Veröffentlichungen von Kurzgeschichten, bevor ich auf die Filmhochschule nach Deutschland ging. Die Phase in Babelsberg war geprägt von Studium, Drehbuch und Film. Trotzdem war mir das Schreiben von Prosa immer wichtig. Es gibt Stoffe, wo ich sofort sage, das ist ein Film, das muss auf die Leinwand. Da brauchen wir Schauspieler, das soll visualisiert werden. Wenn ich aber das Gefühl habe, ich schreibe etwas nieder und nichts fehlt der Erzählung, dann ist es ein Buch. Bei der Idee zum „Birnenfeld“ war schnell klar, dass es ein Roman sein würde.

Ihre präzisen Beschreibungen der Orte und Personen rufen sehr filmische Bilder auf. Vieles im Roman wird nicht ausformuliert. Doch die „lernbehinderten“ Kinder erfassen unmittelbar, was um sie herum geschieht.

Als ich von Berlin und Babelsberg nach Tbilissi zurückkehrte, sah ich diese Kinder als erwachsene Frauen bettelnd auf der Straße. Ich konnte mich daran erinnern, wie sie als Kinder waren, und wollte das unbedingt festhalten. Dabei war mir wichtig, nur das Notwendige zu erzählen, die Welt roh zu zeichnen, denn diese Welt, von der ich erzähle, braucht nicht viel Gerede drum herum.

Auch in Ihren Filmen sind die tragenden Rollen weiblich. Was interessiert Sie an dieser Perspektive heranwachsender Mädchen und Frauen?

Das passiert fast automatisch. Ich beobachte als Frau die Frauen in meiner Familie. Und ich sehe, was für ein Schicksal georgische Frauen haben. Georgien ist immer noch ein patriarchal geprägtes Land. Aber allmählich entdecken die Frauen, dass sie etwas zu sagen haben, und brechen die Verhältnisse auf. Dass Frauen ihren eigenen Willen entwickeln und sich dabei Richtung Westen orientieren, das muss die georgische Männerwelt nach und nach begreifen. Georgien ist nicht mehr wie in der Sowjetunion ein geschlossener Raum mit komischen Werten. Es ist ein freies Land, das sich nach Europa öffnet. Und dazu gehört auch, dass die Geschlechter gleichberechtigt sind. Für mich sind Männer oft Figuren, die auf der Stelle treten, während Frauen den Stillstand nicht mehr ertragen und nach vorne drängen.

Wenn man in Europa verstehen will, wo Georgien herkommt, muss man sich unter anderem mit der Literatur des Landes beschäftigen

Am 9. Oktober eröffnet die Frankfurter Buchmesse mit Georgien als diesjährigem Ehrengast. Welche Rolle spielt Literatur im kulturellen Leben des Landes?

Die Frankfurter Buchmesse hat für Georgien eine sehr große Bedeutung. Nach Litauen oder Ungarn ist es ein weiteres Land der ehemaligen Sowjetunion, das die Ehre hat, dort zu Gast zu sein. Georgien bekommt dadurch viel Aufmerksamkeit und Raum, um Literatur zu präsentieren. Aber auch um zu diskutieren, in welche Richtung es sich entwickeln will.

Sie spielen auf die Konflikte mit Russland an?

Ja, momentan sind zwanzig Prozent des Landes von Russland okkupiert, und sie versuchen die ganze Zeit antieuropäische Propaganda zu betreiben. Ein Aufbruch in die europäische Kulturszene ist für uns fast überlebensnotwendig. Die Einladung nach Frankfurt zur Buchmesse hat die Prozesse in Geor­gien tatsächlich belebt. Sehr viele Bücher wurden veröffentlicht und viele jetzt aus dem Georgischen übersetzt. Nach siebzig Jahren unter sowjetischer Führung war georgische Literatur fast unbekannt.

Und das ändert sich jetzt?

Wenn man in Europa verstehen will, wo Georgien herkommt – wir haben schließlich diese schwierige geopolitische Situation im Südkaukasus –, dann muss man sich unter anderem mit der Literatur des Landes beschäftigen. Fragen zu Liberalismus, Demokratie, Religion oder Geschlechterrollen, die heute sehr aktuell sind, tauchen bereits in den ältesten literarischen Werken auf. Georgien fängt also nicht erst heute an, darüber nachzudenken. Wir wollen daran anknüpfen und das schwierige postsowjetische Erbe überwinden, um uns weiter in Richtung Westen zu entwickeln.

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