Ausstellung im Roten Rathaus: Jüdisches Leben an der Oder

Die Ausstellung „Im Fluss der Zeit“ erinnert an das Schicksal deutscher und polnischer Juden. Gemeinsam ist ihnen, dass sie vor 1990 in Vergessenheit geraten waren.

Der jüdische Friedhof in Landsberg an der Warthe/Gorzów Wielkopolski Foto: Adam Czernenko/Kulturforum östliches Europa

Alle waren sie Breslauer Juden. Willy Cohn, Sohn einer Kaufmannsfamilie, die aus Posen an die Oder gezogen war, arbeitete nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als Lehrer am Breslauer Johannesgymnasium. Mit der Machtübernahme der Nazis wurde er 1933 zwangsweise in den Ruhestand versetzt. „Nirgends ist mehr Recht in Deutschland! Nirgends!“, notierte er in seinem Tagebuch. Im November 1941 wurde er zusammen mit tausend anderen Breslauer Juden mit einem Sonderzug vom Bahnhof Breslau-Odertor nach Kaunas transportiert und erschossen.

Breslauer Jüdinnen und Juden sind auch die Kinder, die ein Foto des Judaistik-Lehrstuhls der Universität Breslau 1947 zeigt. Es sind Schülerinnen und Schüler der 2. Klasse der Alejechem-Schule im nun polnischen Wrocław. Neben der Jizchok-Leib-Perez-Schule in Stettin war sie bis zu ihrer Schließung 1968 die größte jüdische Schule in der Volksrepublik Polen. Die Eltern der Schüler hatten sich versteckt oder waren vor den Nazis in die Sowjetunion geflohen und kehrten nach dem Krieg an die Oder zurück. Ende 1946 lebten in Niederschlesien knapp 90.000 Juden, 15.000 von ihnen in Breslau. Die meisten verließen Polen nach dem Pogrom in Kielce 1946, der Gründung Israels 1948 und der antisemitischen Kampagne 1968.

Nicht zuletzt ist auch Bente Kahan eine Breslauer Jüdin. 2002 kam die Norwegerin an die Oder, gründete eine Stiftung und setzte sich für die Sanierung der Breslauer Synagoge „Zum Weißen Storch“ ein. Heute zählt die jüdische Gemeinde im polnischen Wrocław 350 Mitglieder. Rund um die Synagoge ist jüdisches Leben wieder sichtbar geworden. Es gibt koschere Restaurants und ein reges Kulturleben.

„Im Fluss der Zeit. Jüdisches Leben an der Oder“ heißt eine Ausstellung, die am 5. September im Roten Rathaus eröffnet wurde. Ein geradezu waghalsiges Unterfangen, wenn man bedenkt, dass die Oderregion mit ihren historischen Landschaften Schlesien, der Mark Brandenburg und Pommern im Lauf der Jahrhunderte immer wieder die Herrschaften gewechselt hat. Und doch eint eines die deutschen und polnischen Juden, die die Orte, vor allem aber Städte wie Breslau, Stettin und Frankfurt (Oder) vor 1933 und nach 1945 geprägt haben: Vor 1990 war ihre Geschichte in Vergessenheit geraten. Die Ausstellung, kuratiert von Magdalena Gebala und Magdalena Abraham-Diefenbach, soll sie nun wieder in Erinnerung rufen.

Die deutsch-polnische Ausstellung „Im Fluss der Zeit. Jüdisches Leben an der Oder“ wird bis 5. November 2018 im Wappensaal des Roten Rathauses, Rathausstraße 15, (Montag–Freitag, 9–18 Uhr) gezeigt. Zur Ausstellung gibt es einen 96 Seiten starken Katalog. (wera)

Vergessen waren die deutschen Juden wie Willy Cohn gleich doppelt, sagte Gebala bei der feierlichen Eröffnung im Festsaal des Rathauses. „In der Bundesrepublik waren es die Vertriebenen, die die Erinnerung an ihre alte Heimat prägten. Für die Ermordung der Juden war da kein Platz.“ In der DDR wiederum wurde über die Erinnerung an die an Polen abgetretenen deutschen Gebiete der Mantel des Schweigens gelegt.

Die meisten Polen wiederum, die nach dem Krieg in die „wiedergewonnenen“ polnischen Gebiete kamen, stammten aus Ostpolen und hatten alle Hände voll zu tun, sich im „wilden Westen“ Polens zurechtzufinden. Für die Erinnerung an die deutschen Juden, die vor ihnen an der Oder gelebt haben, war da kein Platz, zumal viele Spuren der Deutschen getilgt wurden – und mit ihnen auch die der Juden. Also wurden aus Synagogen polnische Kulturzentren oder, wie in Meseritz/Międzyrzecz, Geschäfte.

Erst seit 1989 und 1990 wurden die Spuren jüdischen Lebens wieder entdeckt, und zwar auf beiden Seiten der Grenze. In Schwedt wurden das Synagogendienerhaus und die Mikwe, das jüdische Ritualbad, saniert und sind heute Teil des Schwedter Stadtmuseums. In Frankfurt (Oder) waren es zugewanderte Juden aus der ehemaligen Sowjetunion, die die jüdische Gemeinde neu gegründet haben. In Stettin wurden die Grabsteine des ehemaligen jüdischen Friedhofs zu einem Denkmal aufgestellt. Und neben der Breslauer Synagoge wurde auch das jüdische Gotteshaus in Reichenbach/Dzierżoniów saniert. Sie wird nun von der Stiftung Beiteinu Chaj/Unser Haus betrieben.

Beispiele zeigen, dass die Oderregion auch schon vor 1945 ein deutsch-polnisches Grenzland war

Als eine „Einladung zur Neuentdeckung des deutsch-polnisch-jüdischen Kulturlebens“ verstehen die Kuratorinnen die Ausstellung, die das Deutsche Kulturforum Östliches Europa in Potsdam organisiert hat. Tatsächlich sind die vielen lokalen Initiativen, die sich um eine Erinnerung an das jüdische Leben diesseits und jenseits der Oder bemühen, auch ein Hinweis darauf, dass die jüdische Geschichte des Oderraums die Grenzen deutscher und polnischer nationaler Erinnerung überschreitet, dass sie von beiden Seiten als Teil des regionalen Kulturerbes verstanden wird. Die jüdische Geschichte, die Vernichtung der Juden, aber auch der Neubeginn jüdischen Lebens tragen so auch zum Zusammenwachsen der Oderregion bei.

Alfred Döblin ist Stettiner

In der Ausstellung wird deshalb nicht nur an den jüdischen Buchdruck an der Oder oder an jüdische Berliner erinnert, die nach dem Emanzipationsgesetz von 1812 Grundstücke in der Provinz, unter anderem in Schlesien, kauften.

Auch prominente Juden, die an der Oder geboren wurde, werden vorgestellt, unter ihnen Alfred Döblin, der 1878 in Stettin geborene Autor von „Berlin Alexanderplatz“, der 1924 bei einer Reise nach Polen seine jüdischen Wurzeln kennenlernen wollte. Oder der Schriftsteller Arnold Zweig, der 1887 in Glogau geboren wurde, 1933 nach Palästina auswanderte und 1948 nach Ostberlin zurückkehrte.

Dass die Oderregion schon vor 1945 ein deutsch-polnisches Grenzland war, zeigen die Kuratorinnen am Beispiel der Städte Meseritz und Schwerin an der Warthe, die vor den polnischen Teilungen dem polnischen König unterstellt waren, der auch für den Schutz der Jüdinnen und Juden sorgte. Den Aufstieg Breslaus zum Zentrum des modernen Judentums wird am Beispiel jüdischer Frauen dargestellt, unter ihnen Lina Morgenstern, die nach ihrem Umzug nach Berlin die ersten Suppenküchen gründete. Oder Clara Immerwahr, die als erste Frau an der Universität Breslau promovierte und gegen den Einsatz von Giftgas im Ersten Weltkrieg promovierte.

Überhaupt, Breslau: Die Stadt mit der vor dem Krieg nach Berlin und Frankfurt am Main drittgrößten jüdischen Gemeinde in Deutschland, steht heute wie keine andere für das gemeinsame deutsch-polnische Erinnern an das jüdische Leben in der deutsch-polnischen Grenzregion. Auch aus diesem Grund war die Ausstellung, bevor sie im Roten Rathaus eröffnet wurde, in der Odermetropole zu sehen.

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