Brauchen wir mehr PsychotherapeutInnen?

KRISE Depression gilt in unserer Hochleistungsgesellschaft als Volkskrankheit. Doch wer eine Psychotherapie will, landet auf Wartelisten

Die Streitfrage wird vorab online gestellt.

Immer dienstags. Wir wählen eine interessante Antwort aus und drucken sie dann in der taz.am wochenende.

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Redaktion: Sarah Emminghaus, Markus Lücker, Waltraud Schwab, Stefan Simon, Tobias Hausdorf

Fotos: Science Photo Library/doc-stock (groß); reuters; privat (4)

Jana Seelig

Ich sehe das Problem längst nicht mehr in der mangelnden Versorgung. Viele Menschen, die Hilfe bräuchten, suchen aus Angst vor der gesellschaftlichen Stigmatisierung erst gar keinen Therapeuten auf. Sich selbst eine psychische Erkrankung einzugestehen ist schwer. Für mich ist aber nicht meine Depression die größte Belastung, sondern ein verständnisloses Umfeld – und das kann niemand therapieren.

Jana Seelig, 27, Autorin und Bloggerin, die neben über Mode und Lifestyle auch über ihre Depression schreibt

Karl Lauterbach

Medizinisch gewinnt die Psychotherapie derzeit eine massive Aufwertung, weil man zunehmend feststellt, dass die unbalancierten chemischen Prozesse im Gehirn vieler depressiver Menschen ihre Ursache in den Lebensumständen haben und durch Formen der Psychotherapie oft kausal geheilt werden können. Aufgabe der Politik muss eine bessere Verteilung der PsychotherapeutInnen und eine angemessene Vergütung sein.

Karl Lauterbach, 52, Mediziner und SPD-Bundestagsabgeordneter

Nina Hagen

Verbrechen sind nicht per psychiatrischer Diagnose vorhersagbar. Geisteskrank? Psychotherapie? Ihre eigene Entscheidung!

Nina Hagen, 60, Sängerin, Schirmfrau der Organisation PatVerfü, die sich für Patientenverfügungen gegen Psychiatrisierung einsetzt

Andrea Abele-Brehm

Akut Kranke bekommen nicht schnell genug Hilfe. Wir brauchen so etwas wie einen Hausarzt auf Psychotherapeutenebene: Therapeuten, die Risikopatienten und ihr soziales Netzwerk kennen, aber auch differenziertes Wissen haben, um die komplexen psychologischen Prozesse im Vorfeld einer krisenhaften Veränderung zu identifizieren und eingreifen zu können.

Andrea Abele-Brehm, 65, Präsidentin der Deutschen Gesellschaft für Psychologie und Professorin am Lehrstuhl für Sozialpsychologie in Erlangen

Nils Kraus

Es gibt keinen Therapeutenmangel – es mangelt an Kassensitzen und politischem Willen, für Therapien zu bezahlen. Die Barmer in Berlin verlangt, dass man nachweislich ein Jahr auf einen Platz bei einem Psychotherapeuten warten müsse, damit sie die Kosten bei einem außerkapazitären Therapeuten übernimmt. Diese haben die gleiche Ausbildung, aber keine 60.000 Euro Schwarzmarktpreis für einen Kassensitz bezahlt.

Nils Kraus, 23, der Psychologiestudent hat die Frage per E-Mail an streit@taz.de kommentiert