Nuancen einer Lebensreise

Dreißig Jahre schrieb Charles Chadwick an diesem Roman, als über Siebzigjähriger debütierte er mit ihm – ein Gesellschaftspanorama und ein Lesevergnügen: „Ein unauffälliger Mann“

VON MANUEL KARASEK

Ein unauffälliger Mann“, so hat der 1932 geborene britische Autor Charles Chadwick diesen Roman genannt. Das erinnert an den Titel von Musils „Mann ohne Eigenschaften“, mit dem dieses späte Debüt noch andere Merkmale teilt: Es ist dick (930 Seiten), es wurde lange an ihm geschrieben (über dreißig Jahre, wie man hört) – und außerdem begreift die Hauptfigur, der Ich-Erzähler Tom Ripple, sich selbst als bedeutungslos, aber in dieser Bedeutungslosigkeit zugleich als ziemlich typisch für sein Zeitalter. Warum sonst sollte der ehemalige Buchhalter auch auf fast tausend Seiten über sein bedeutungsloses Leben schreiben?

Über drei Jahrzehnte – von den frühen 70ern bis ins Jahr 2001 – verfolgen wir seine Geschichte und die der Familie Ripple. Zustandsbeschreibungen aus dem britischen Mittelstand entfalten sich zu einem präzisen Gesellschaftsbild mit seinen antagonistischen Entwicklungen. Im Englischen heißt dieser Roman, den Klaus Berr wundervoll übersetzt hat, „It’s All Right Now“, was auf die stoische, fast beschwichtigende Haltung Tom Ripples verweist.

Die ist auch manchmal vonnöten, denn seine Frau, die ihn zu Beginn der 80er verlässt, entpuppt sich als eine Nerven zersägende Sozialarbeiterin mit einem unerschöpflichen Reservoir an Besserwissereien; Sohn Adrian verschlägt es in die gleichgeschlechtliche Ecke, und Tochter Virginia heiratet einen Loser, der sich jedes Jahr einen neuen Job suchen muss. Konservative Autoren würden daraus eine Chronik über den langsamen Verfall einer Familie stricken. Aber bei Charles Chadwick, der erst vor drei Jahren mit diesem Buch literarisch debütierte, geht es darum, das ganz alltägliche Auf und Ab des Lebens zu fassen. Adrian beispielsweise wird auch ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann, und Virginia sorgt für zahlreichen Nachwuchs. Chadwicks Roman umkreist mit seinen Ich-Erzähler also einen sozialen Mikrokosmos mit schönen Beobachtungen und Meditationen über ein Dasein, das zwar keine materiellen Nöte kennt, aber das Rätsel seines Sinngehalts nicht preisgibt.

Ebenso große Aufmerksamkeit wie dem familiären Umfeld schenkt der Ich-Erzähler den Beziehungen zu seinen Nachbarn. Da gibt es den netten Herrn von nebenan, Mr. Webb, der sich überraschend als Päderast entpuppt und den 11-jährigen Adrian einmal schmutzig anfasst. Da gibt es – zwei Jahrzehnte später – eine polnische Witwe, die als Kind der Schoah entkommen ist; und die Tom Ripple nun auf eine Reise nach Polen begleitet. Es sind zahlreiche Episoden, bis zu fünfzig Figuren tauchen auf. Man begleitet Tom Ripple bei seinen Umzügen von London aufs Land. Am Ende der Achtziger kehrt der Frühpensionär wieder zurück in die Hauptstadt – und landet am Ende an der Südküste Englands.

Tom Ripple entpuppt sich als ein ziemlich witziger Romanheld, unter anderem durch seine Neigung, ständig und zur falschen Zeit flaue Sprüche und Kalauer zu reißen. Er dient Chadwick als ein Brennglas, durch das das Bild der Epoche hindurchblickt. Der mittlerweile 76-Jährige erweist sich als handwerklich virtuoser Schriftsteller. Mit spielerischer Leichtigkeit benutzt und verwandelt er traditionelle Erzählkonzepte aus der englischen Literatur – von Trollope bis zu Naipaul.

Das alles entwickeln sich zu einem großen Lesevergnügen, weil Chadwick jeden Abschnitt dramaturgisch unterschiedlich behandelt. Zum Beispiel sieht man im ersten Kapitel die Ripples zusammen mit ihren Nachbarn picknicken. Drei Figuren – Adrian, Tom und Mr. Webb – wissen über die sexuelle Neigung Mr. Webbs Bescheid, bewahren aber Stillschweigen, was zu einem völlig grotesk verklemmten Ausflugsklima führt. Oder – völlig anders gestaltet – die erschütternde Szene, mit der Chadwick die tödliche Krankheit von Adrians späterer Lebenspartnerin Jane schildert. Es gibt viele guten Episoden in diesem realistischen Roman; manche wirken – man kann nicht umhin, es so auszudrücken – nahezu unwirklich schön. Je mehr man liest, desto stärker ist man von den Nuancen und Eskalationen der Schilderung gebannt.

Sicherlich braucht man für Chadwicks Roman einen langen Atem, gelegentlich sogar Geduld. Es lohnt sich aber. Einen derartig umfassenden wie sorgsam komponierten Querschnitt der britischen Gesellschaft hat man da vor sich, eine bewegend schöne Studie über das Menschsein in der Postmoderne, die den Vergleich mit den Großen nahelegt. Doch solch ein Urteil schreckt vielleicht nur ab. Fernando Pessoa schrieb einmal: „Ich entwickle mich nicht, ich reise.“ Gerade dieser schöne Satz umfasst vielleicht am besten Charles Chadwicks kühnes Erzählprojekt der haargenauen Schilderung einer Lebensreise entlang des scheinbar Gewöhnlichen.

Charles Chadwick: „Ein unauffälliger Mann“. Aus dem Englischen von Klaus Berr. Luchterhand Verlag, München 2007, 926 Seiten, 24,95 Euro