Kampf der Wortschöpfer mit der Materie

Am Donnerstag lasen zehn junge Dichter in der Wabe ihre Werke aus der Lyrikanthologie „Lyrik von Jetzt“, Teil zwei

Wenn Lyriker vorlesen, muss das karge Konzept der Ein-Mann-Performance sie tragen. Diese wiederum wirkt gern mal bemüht und überambitioniert, wenn fehlende schauspielerische Ausbildung kompensiert werden muss.

Auch am Donnerstagabend in der „Wabe“, wo das renommierte „Open Mike“ jedes Jahr aufs Neue zelebriert wird, gab es eine Tendenz dahin. Die Dichter und Herausgeber Björn Kuhligk und Jan Wagner haben im Berlin Verlag vor kurzem den zweiten Teil ihrer hervorragenden Lyrikanthologie veröffentlicht. Zehn von fünfzig Autoren, die in „Lyrik von Jetzt. Zwei“ vertreten sind, baten die Herausgeber nun auf die Bühne.

Es wurde ein interessanter Abend, gerade wegen der oben beschriebenen Schwierigkeiten. Nicht nur der Kampf der Wortschöpfer mit ihrer Materie war gut sichtbar. Fast alle Teilnehmer trugen ihre Erzeugnisse wenig überzeugend vor, während die Texte selbst überwiegend bemerkenswert waren. Dennoch gab es schöne Augenblicke. Sei es das handwerklich bedingte Aufleuchten manischer Präzision oder das plötzliche Umschlagen eines Tons in sensible Hybris, sei es die Nacktheit der Emotionen oder die Verdichtung zu einem Standbild: Ausfall war keiner zu beklagen. Das ist auch dem guten Geschmack von Kuhligk und Wagner zu verdanken.

So wünschte man sich über den Abend lang zwar einen Regisseur und einen Schauspieler herbei, die dem Ganzen den Glanz des Darstellerischen verleihen könnten – und war gleichzeitig sehr froh, dass es doch nicht so war. Denn es ist zweitrangig, ob die Möglichkeiten des Vortrags voll ausgeschöpft und demgemäß die Verfasser den schwer kalkulierbaren Wirkungen ihrer Texte gerecht wurden. Carl-Christian Elzes „Fötotomische Ballade“ etwa tritt den Beweis an, dass genau gesetzte Wörter und ein schwingender Rhythmus nicht immer feingeistig sein müssen. In dieser veterinären Splatterlyrik liest man: „das fault sich schnell im mutterleib & aast dahin, das kalb / verdreht, blockiert. des muttertiers ziegelrote augenschlitze. / ein guter mann pflanzt seine faust ins fleisch, setzt kalt / die säge an & sägt dem milchvieh durch die aufgeschäumte ritze / die leibfrucht klein: ein vorderbein & noch ein bein und noch – / dem guten mann steckt in der hirnhaut eine mörderhitze – / ein letztes bein! in scheiben heckt der rumpf durchs loch!“

Trotzdem ist auffallend, dass Elzes Lyrik, aber auch die Gedichte Nora Bossongs, Ann Cottens und vieler anderer zwar in der Anthologie ihre Kräfte voll entfalten, während dieselben Texte bei der Lesung manchmal wie geknebelt wirkten. Jürg Halter aus Bern wiederum löste das Problem mit seinem sicheren Vortrag sehr gut. Diese Mischung gehört zum Risikoprogramm von Veranstaltungen, die die verstreuten Energien einer disparaten „Szene“ zu sammeln suchen.

Veranstaltungen mit solcher Programmatik sind darauf angelegt, einerseits einen Querschnitt zu präsentieren, andererseits besonderes Talent hervorzuheben. Dabei entsteht der unfreiwillige Nebeneffekt, dass deutlich wird, wie die soziale Wirklichkeit des Lebens als angehender Schriftsteller – egal welches Genre er oder sie pflegt – längst den unüberschaubaren Gesetzen der Kontingenz und Koinzidenz unterworfen ist: Kuhligk und Wagner hatten bereits 2003 mit ihrer ersten Anthologie viele neue Stimmen präsentiert. Nun warten sie mit nochmals 50 neuen Dichtern auf. Der Spaß, die Passion der Beteiligten sind nicht zu übersehen. Aber der Reichtum, die Vielfalt und vor allem die Menge der jungen Talente bergen auch die Gefahr, dass die Kräfte rasch und unbemerkt implodieren, weil sich die Verlage am Ende für kaum einen interessieren.

MANUEL KARASEK

Björn Kuhligk und Jan Wagner (Hg.): „Lyrik von Jetzt. Zwei. 50 Stimmen“. Berlin Verlag, 287 Seiten, 19,90 €