Comeback eines Liebestöters

„Überraschend, angenehm überraschend“: Deutschlands größter Unterwäschehersteller, dessen Produkte jahrzehntelang als Verstofflichung deutscher Spießigkeit verschrien waren, besinnt sich auf seine Klassiker und legt die Schlüpfer und Unterhemden von einst als attraktive Retroreihe neu auf

VON NIKE BREYER

„Es gehört schon etwas mehr dazu, um die neue Schiesser-Doppelripp- Qualität 4400 herzustellen. Wenn Sie aber einer Kundin erklären wollen, wie diese außergewöhnliche neue Schiesser-Wäsche zustande kommt, dann erzählen Sie ihr: Das geht wie beim Sockenstricken. Das Ergebnis ist überraschend, angenehm überraschend. Diese Spezialstrickart gibt Schiesser Doppelripp 4400 eine unglaubliche Dehnbarkeit und Elastizität.“

Mit dieser sanft euphorischen Produktinformation eröffnete der Markenwäschehersteller Schiesser 1951 die Lancierung seiner neuesten Trikotqualität „Doppelripp“. In seiner Unternehmenszeitung Schiesser Post instruierte er seine Vertragshändler, mit welchen Argumenten sie die neue Ware an den Mann bringen sollten – oder besser: an die Frau. Das Einkaufen von Socken und Unterwäsche war damals (inzwischen hat männliche Selbstbestimmung hier schöne Fortschritte erzielt) den Müttern und Gattinnen vorbehalten.

Wie auch immer, die Markteinführung hat funktioniert. „Schiesser-Doppelripp“ wurde ein durchschlagender kommerzieller Erfolg. Heute, ein halbes Jahrhundert später, ist er ein fester Begriff und eine Legende deutscher Produktkultur. Für manche ist er gar Synonym und Gattungsbegriff für Männerunterwäsche. Und zwar eine bestimmte Sorte Männerunterwäsche, deren Leumund nicht alleweil der beste war.

Noch in einer Umfrage der Zeitschrift Textilwirtschaft aus dem Jahr 1989 gab eine deutliche Mehrzahl der befragten Frauen in Deutschland an, dass sie dem „knackigen Mann im Tanga“ (was auch immer das heißen mag) den Vorzug gäben vor einem mit „Liebestöter“ – das war damals ganz unzweideutig ein Doppelripp-Behoster. Immerhin ein Viertel aller bundesdeutschen Männer, so eine Gruner+Jahr-Studie aus demselben Jahr, favorisierte gleichwohl für den persönlichen Gebrauch jene inkriminierten Modelle.

Ein schönes Beispiel, wie sich mit den Zeiten und Sitten auch die ästhetischen Urteile wandeln. Kaum ein Wäschestück ist in den letzten zehn Jahren stilistisch derart abgestürzt wie der zitierte Tanga. Heute auf tiefstgelegtem Niveau angekommen, ist er selbst als „Ballermann“-Parodie kaum noch zu gebrauchen.

Dabei war die gegen weibliche Einflüsterungen offenbar resistente männliche Vorliebe für den sauberen, „anständig“ sitzenden Liebestöter seinerzeit fast schon heldenhaft: Spießigkeit und Biederkeit hießen die vernichtenden Charakterfehler, die man seit den modisch und sexuell befreiten 1970er-Jahren diesem soliden und hygienischen Trikot nachsagte – und übel nahm. Andauernder widerständiger Gebrauch desselben galt als „typisch deutsch“, als provinzielle Geschmacksverirrung, der man, so man davon absolut nicht lassen wollte, im eigenen Interesse besser im Geheimen frönte – wie etwa dem Konsum von Pornoheften oder dem Tragen von Birkenstock-Sandalen.

Doch – surprise, surprise! – der berühmte Zeitgeist hat sich wieder einmal gewendet, und der hässliche Liebestöter von einst ist auf gutem Wege, sich von seinem hartnäckigen Negativimage zu emanzipieren. Schiesser nämlich dreht jetzt den Spieß um. Aus der alten Not mittelmäßiger Reputation machte der 1875 gegründete deutsche Marktführer für Unterwäsche die Tugend eines Bekenntnisses zu Qualität und Tradition und lancierte zum Oktober 2003 die neue Linie „Schiesser Revival“.

Dafür wurden die vormals als altbacken geltenden Trikotqualitäten Feinripp (entwickelt 1923), Mako-Porös (1937, eine Weiterentwicklung von „Schiesser’s Knüpftrikot“ aus den 1880er-Jahren) und Doppelripp (1951) in schicken, properen Retrodesigns aufgemacht. Für die Schnitte dienten keusche Spaghettiträgerhemdchen mit Spitzeneinsatz aus den 1930er-Jahren ebenso als Vorlage wie die klassische „Herren-Sportjacke“ mit Kurzarm aus der angeblich muffigen Nierentischdekade der 1950er-Jahre.

Das weiße Doppelripp-Achselhemd mag sich als bevorzugte Oberkörperdekoration von Bauarbeitern und kleinbürgerlichen Vorstadtpatriarchen beim samstagnachmittäglichen „Sportschau“-Konsum in unser kollektives Bildgedächtnis eingeschrieben haben. Aber, so könnte man in adrettem Schiesser-Post-O-Ton kontern: „Das Ergebnis ist überraschend, angenehm überraschend!“ Die schönen neuen alten Modelle sind mustergültig hochwertig in langstapliger feiner Makobaumwolle gewirkt und werden in Nessel statt in Seidenpapier eingeschlagen und in hochwertige Pappkartons verpackt ausgeliefert. Diese ziert eine „altdeutsch gehämmerte“, gleichwohl sehr schicke Illustration, deren Herkunft aus den Dreißigerjahren unverkennbar ist.

Entspannt und elegant bieten sich die Slips, Hemdchen und Leibchen, die auf die schönen Namen „Friedhelm“ und „Greta“ (Doppelripp, im Stil von 1951), „Herbert“ und „Lilly“ (Mako-Porös, im Stil von 1937) und „Siegfried“ und „Bella“ (Feinripp, im Stil von 1923) hören, einem verwöhnten modernen Blick und Begehren an, ohne den Geist ihrer Herkunft zu verleugnen. In ihrer stillen Größe und edlen Einfalt sind sie nicht einfach nur anziehend, sondern gefallen durch ihren atavistischen Charme. In ihrer modischen Ästhetik und Materialität haben sie Idee und Ideal einer Zeit konserviert, als eine typisch deutsch überformte Hygienebewegung gesellschaftlichen Aufbruch signalisierte und die prägende kulturelle Orientierung darstellte.

Als durch die Forschungen der großen Bakteriologen des 19. Jahrhunderts Rudolf Virchow, Louis Pasteur und Max Pettenkofer die Existenz von Mikroben als Krankheitserreger nachgewiesen war, revolutionierte dies nicht nur die Medizin. Es gab auch den Anstoß zu Volksaufklärungskampagnen großen Stils, die mit den Erkenntnissen der neuen Wissenschaft „Hygiene“ bekannt machen sollten. Ihre populäre Ableitung „Sauberkeit“, die man nun als maßgebliche Voraussetzung für Gesundheit begriff, wurde flugs zum sittlich-moralischen Wert hochgelobt: „Es ist daher die Pflicht der Selbsterhaltung für jeden Einzelnen“, dozierte der Arzt Friedrich Oesterlein 1851 in seinem „Handbuch für Hygiene“, „sowohl als für eine ganze Bevölkerung, für den Staat, allen jenen Bedingungen der Gesundheit und Wohlfahrt, welche uns die Wissenschaft überhaupt und die Hygiene insbesonders an die Hand gibt, nach Kräften und mit Consequenz nachzukommen.“

Auf diversen Hygiene-Ausstellungen wurden dem bürgerlichen Publikum die neuesten Erzeugnisse vorgestellt, mit denen das Leben gesünder und natürlicher gestaltet werden sollte. Auch mit neuen Kleidungsschnitten wurde experimentiert: „Ich trage nie Unterhosen“, bekannte der Medizinprofessor und einflussreiche Kleiderreformer Gustav Jäger (1832–1917). „Das Durchziehen des Hinterstückes vom Hemd zwischen den Beinen und seine Befestigung am Vorderstück übe auch ich seit Jahren. Nur habe ich dazu keine besonderen Vorrichtungen am Hemd angebracht, sondern bediene mich einer Sicherheitsnadel.“ Um an anderer Stelle hinzuzufügen: „Die Hemdhose passt mehr für magere Leute. Sind nämlich die Schenkel so stark befleischt, dass sie in der Mitte im Schritt zusammenstoßen, kann der Schweiß aus dem zwischen sie eingeklemmten Theil der Hemdhose nicht genügend abdunsten, besonders bei Männern, wo die Oberhose dazukommt – und das ist widerwärtig.“ Auch die Hemdhose übrigens, Vorläufer des heutigen Bodys, wird als historisches Modell „Roland“ dank Schiesser im Herbst 2004 Wiederauferstehung feiern – allerdings wohl kaum in den problematischen historischen Bauchgrößen.

Nicht nur über den idealen Schnitt, auch über die hygienischste Stoffqualität wurde früh nachgedacht. „Als beste Webart schwebt mir ein strumpfartiges Machwerk vor“, sinnierte 1879 der besagte Gustav Jäger. Wegen seiner „Porösität“, seiner Atmungsaktivität, galt fabrikgefertigtes Trikot, ein auf so genannten Rundstühlen gewirktes elastisches Gewebe, bald als das Nonplusultra an Fortschrittlichkeit, zumal hier keine Seitennaht mehr drücken konnte. Umkämpfter Streitpunkt war dagegen die richtige Faser. Tierisch oder pflanzlich?, lautete die Gretchenfrage. Während Gustav Jäger schon ab 1880 Wolle als allein selig machend propagierte, machte sich sein Konkurrent Dr. Heinrich Lahmann für Baumwolle stark.

Die Kontroverse „Wolle kontra Baumwolle“ wurde allerdings bis heute nicht entschieden. Jacques Schiesser, Gründer und Besitzer der Radolfzeller Trikotwäschefabrik, versuchte sich mit einem „dritten Weg“ und erntete dafür Lorbeeren und wirtschaftlichen Erfolg. Auf der Weltausstellung Paris 1901 wurde er für seine so genannte Abhärtungswäsche aus rubbeligem Ramieleinen mit dem „Grand Prix“ für Innovation ausgezeichnet.

Bei der neuen Nostalgie-de-luxe-Linie von Schiesser geht es wieder um Innovation. Wie dies für Retro-Designs typisch ist, besteht die Attraktivität jedoch nicht darin, dass sie material- und schnitttechnisch neu respektive auf dem höchsten Stand wären, sondern dass sie Erinnerungen wecken und Befindlichkeiten konservieren, die das Herz wärmen und die auf eine geheimnisvolle Art mit der Gegenwart zu tun haben.

Auch wenn Schiesser bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts als quasi Up- Front-Hygieniker Modellentwicklung betrieb und dafür auch als Marke stand, haben – infolge zunehmender Fraktionierung in hochspezialisierte Produktsparten wie die Sportswear – auf diesem Gebiet heute andere Hersteller die Nase vorn. 1951 legte eine Schiesser-Produktinformation noch durchaus einen sportlichen Einsatz der Wäsche nahe. „Schiesser Doppelripp ist hochporös“, hieß es da. „Ihr hoher Wärmerückhalt, verbunden mit guter Ventilation, die so Unterschiede zwischen Körper- und Außentemperatur auch bei starken Schwankungen erkältungsverhütend ausgleicht, macht sie zur angenehmen und gesunden Wäsche, im Frühjahr und Herbst so gut wie im Winter.“

Doch in puncto Leistungsfähigkeit sind die beschriebenen Eigenschaften heute längst überholt. Doppelripp wurde von Mesh, Vlies und ähnliche neuartige synthetische Fasergewebe und Bindungsarten abgehängt. Auch Baumwolle, wie sie für die „Revival“-Line verarbeitet wird, ist, so hochwertig sie sein mag, für aktuelle technische Funktionswäsche, die zum Leistungssport getragen wird, quasi abgeschafft. Sie ist zu einem vertraut-nostalgischen Material geworden, das auf den Alltag beschränkt bleibt, wo sie unter „Normalbedingungen“ ein solides Wohlfühlerlebnis beschert.

„Neu“ und auf der Höhe der Zeit ist die „Revival“-Linie von Schiesser durch etwas anderes. In kesser Umwertung alter Werte behauptet sie eine Hipness und neue Sexyness, die sich von gängigen Reizwäscheklischees auf Popsternchen- und Christina-Aguilera-Niveau distanziert, und liegt damit im gegenläufigen Trend. Nicht immer weiter vorangetriebene kokette Entblößung, sondern „prüde“ Verhüllung, Spießigkeit genannt, ist schön, raunen die neuen Retro-Leibchen in nüchterner Unschuld. Und tatsächlich erscheint der alte Vorwurf, selbstbewusst gewendet, als nichts anderes als das Bekenntnis zur eigenen Tradition.

Man mag sich hierbei durchaus an Prinz Asfa-Wossen Asserates „Lob des Spießers“ erinnert fühlen, wie er es in seinem derzeit animiert diskutierten Bestseller „Manieren“ den Deutschen zum Geschenk macht. Aber nicht nur der äthiopische Prinz ist im Auftrag eines Phänomens im Einsatz, das man arbeitshypothetisch mit deutscher Identität umschreiben könnte. Auch andernorts wird angemessen wohlwollend mit frischer Neugier nach den Wurzeln derselben gebuddelt. Ist nicht der doppelgerippte „Friedhelm“ das adäquate Unterhemd zu Sönke Wortmanns „Wunder von Bern“, der feingerippte „Siegfried“ die modisch-textile Annäherung an Achim von Borries’ gerade anlaufenden Film „Was nützt die Liebe in Gedanken“?

Körper-Spurensuche und Beschreibung in der eigenen Kultur“, meinte schon 1983 der Kulturwissenschaftler Arthur Imhoff („Leib und Leben in der Geschichte der Neuzeit“) seien nun mal „nicht weniger schwierig“ als im Falle „exotischer Völker“. Dabei können nicht nur Elaborate der Hochkultur, sondern gegebenenfalls auch Produktkunstwerke der Mode oder eben Leibwäsche diese Körperspurensuche inspirieren. Für eine Generation Golf, die mit Calvin-Klein-Unterhosen groß geworden ist und sich im experimentierfreudigsten Fall vielleicht bis zu Nikos-Underwear vorgewagt hat, könnte die Begegnung mit „Greta“, „Siegfried“, „Friedhelm“ & Co. durchaus fremder, exotischer und unter Umständen aufregender ausfallen als die gewagteste Adaption eines neuartigen Baströckchens aus Takatukaland.

Das darf man als Einladung verstehen. Gerade an ihrem Umgang mit dem Körper zeigen deutsche Produktkonzepte, die weltweit erfolgreich wurden – von der Birkenstock-Sandale über die anthroposophische Dr.-Hauschka-Kosmetik bis zur Wäsche von Schiesser –, eine bemerkenswerte eigene Handschrift, die mit überdurchschnittlicher Häufigkeit geprägt ist von einer frühen Love-Story mit der Lebensreform. Von einer „kryptischen Gegenwärtigkeit der Vergangenheit“ hat der Kulturwissenschaftler Utz Jeggele einmal gesprochen. Endlich wird es schick, auch hier einmal auf Entdeckunsgreise zu gehen.

Um das Rendezvouz mit der Schiesser-Tradition auf hohem Niveau zu zelebrieren, bemüht man sich in Radolfzell besonders auch um authentische Qualität. So wurde eigens für „Revival“ eine originale Maschine restauriert, auf der schon 1967 das „Mako-Porös“-Trikot gewirkt wurde. Sie steht in Tschechien, wo mit dem zur Schiesser AG gehörenden Unternehmen Pleas neben anderen Schiesser-Produkten auch die „Revival“-Kollektion produziert wird. Erhältlich sind die guten Stücke zu Lifestylepreisen zwischen 25 und 40 Euro in trendigen Mode- und Szeneläden, neben hippen Adressen wie „God Bless You“ in Berlin und „Stierblut“ in München auch in Zürich und Amsterdam.

Beim deutschen Unterwäsche-Marktführer macht man sich auf die neuen Trends in Sachen Tradition seinen eigenen Reim: „Schiesser“, wird hier charmant-kryptisch mirakelt, sei „Alles, was Sie berührt“.

Nike Breyer, geboren 1955, lebt als freie Autorin in Marburg an der Lahn