„Du musst immer aktiv bleiben“

Jürgen Beer verkauft Unterhaltungselektronik. Cornelia Riecher ist Fußpflegerin. Tracey Mauersberger näht Decken. Alle drei sind Existenzgründer – und schwerbehindert. Das Projekt Enter Ability hilft Behinderten beim Gang in die Selbstständigkeit

VON ANNA LEHMANN
UND NIKE WILHELMS

„Geiz ist geil“ gilt hier nicht. Mitten im Laden „Beer Unterhaltungselektronik“ steht ein bequemes Ledersofa. Als Kunde kommt man sich auf diesem Sofa – umringt von Videorekordern, DVD-Playern und Hifi-Anlagen – aufgehoben und geborgen vor. Es geht hier nicht um Abzocke, um den bloßen Verkauf der oft sehr teuren Elektronika.

Jürgen Beer

Dem Inhaber Jürgen Beer ist die ausführliche Beratung wichtig. Das bringt er auch mit dem Slogan auf seiner Visitenkarte zum Ausdruck: „Beratung ist geiler als Geiz“. Beer will den Kunden das verkaufen, was zu ihnen passt. Und dafür nimmt er sich viel Zeit und hört zu. Sehen kann er die Geräte nicht. Er ist von Geburt an blind. Und das macht ihn zum Profi des Hörens.

Angefangen hat das Projekt Existenzgründung für Beer schon, als er noch als Angestellter in der Republik unterwegs war, um Hilfsmittel für Blinde auf Schulungen zu erklären. Etwa die so genannte Braille-Zeile, die unterhalb der Standard-Tastatur für Computer installiert wird. Auf dieser Lochmaske werden kleine Metallstifte mittels elektronischer Impulse leicht angehoben und formen sich so zu fühlbaren Zahlen und Buchstaben. Doch Beer fehlte bei diesen Schulungen die nötige Zeit, sich wirklich mit den Menschen auseinander zu setzen.

So kam er 1998 auf die Idee, sich selbstständig zu machen und sein Talent zu nutzen, zuhören und erklären zu können. Er lernte einen Vertreiber von Unterhaltungselektronik kennen und entwickelte mit ihm seine erste Geschäftsidee: Sie verkauften Videorekorder, Stereoanlagen und andere elektronische Geräte günstig übers Netz. Zusätzlich für sehbehinderte Menschen gab es eine Bedienungsanleitung auf Audiokassette. Diese war nicht nur bei Blinden begehrt – auch Sehende schätzten es, alles von Jürgen Beers sanfter Stimme langsam erklärt zu bekommen.

Mit der Zeit bildete sich ein Netzwerk: Der Unternehmer lernte immer mehr Hersteller kennen und führte eine zusätzliche Beratung per Telefon ein: „Wenn man sich auf sein Gehör verlassen muss, bekommt man schnell das richtige Gespür für den Menschen am Telefon. Ob jemand exzessiver Partygänger und Kettenraucher oder Heimchen am Herd ist, bedingt auch oft die Auswahl des jeweiligen Produktes.“ Die Stimmenanalyse scheint zu funktionieren, denn bisher läuft das Geschäft auch ohne Werbung ausgezeichnet. Seit 2003 hat er den Laden in der Herschelstraße 3, das Zuhause im Netz www.horch-und-guck.de existiert schon länger.

Die größten Alltagsprobleme bereiten Beer Formulare für Behörden. Das ist selbst für seine vom Integrationsamt durch Ausgleichsabgaben finanzierte Arbeitsassistenz ein enormer Zeitverlust. Hilfe scheint Beer bis auf Kleinigkeiten jedoch wenig zu brauchen: Zum Gegencheck von Rechnungen, zum Verpacken und Versand der Ware. Und zum Vorlesen.

Natürlich ist es eine große Erleichterung, dass es heute Programme gibt, die Websites auf der Braille-Zeile lesbar machen. Oder den sprechenden Taschenrechner. Aber der Schlüssel scheint die richtige Einstellung zur Eigenständigkeit zu sein: „Als Unternehmer darfst du nie denken, dass du es geschafft hast. Du musst immer aktiv bleiben.“

Cornelia Riecher

„Connis Kosmetikinstitut“ steht in selbst gemalten roten Lettern auf der Fensterscheibe. Der letzte Laden auf der linken Seite in der U-Bahn-Passage am Halemweg gehört Cornelia Riecher. Mit ihrem zweiten Mann und dem Sohn hat sie das Geschäft umgebaut und eingerichtet. Von der Wandmalerei angefangen entstand alles in Eigenregie. „Ich habe viel Ehrgeiz, das braucht man“, sagt sie ernst. Anfang März hat sie eröffnet.

Vor acht Jahren hatte Cornelia Riecher schon einmal einen Laden – für Kunstnägel. Nebenher wurde sie an einer privaten Abendschule zur Kosmetikerin und medizinischen Fußpflegerin ausgebildet. Nachts ging sie arbeiten, um Ausbildung und Ladenmiete zu bezahlen. Das ging eineinhalb Jahre so: von fünf bis neun Uhr putzen, dann sperrte sie den Laden auf und abends drückte sie die Schulbank. Manchmal hängte sie noch eine Putzschicht dran.

„Ich hatte manchmal Herzrasen, wie bei ’ner Schreibmaschine.“ Bluthochdruck kam hinzu, ihr Haltungsschaden wurde schlimmer, sie bekam Depressionen. Den Laden musste sie aufgeben. Vier Jahre war sie krank.

Heute ist sie zu 60 Prozent behindert. Und entschlossen zum Neuanfang. „Bei mir gibt’s das nicht, rumlungern oder nur zu Hause sitzen.“ Als sie von der Ich-AG hörte, wurde ihr Traum vom eigenen Laden wieder lebendig. Sie überzeugte den Betreuer vom Arbeitsamt und machte sich daran, ein Geschäft ohne Kapital und Kredit zu gründen. „Banken geben überhaupt keine Kredite auf Kosmetik.“ Sie sagt das ohne Bitterkeit.

Das Leben hielt größere Enttäuschungen für Cornelia Riecher bereit. Die erste Ehe, die Krankheit. Irgendwie ging es immer weiter. Ihr jetziger Mann verdient für beide das Geld bei einer Zeitarbeitsfirma. Die 600 Euro Zuschuss für Existenzgründer decken die Ladenmiete, die sie auf diesen Betrag runtergehandelt hat. Zuvor war sie von Haus zu Haus gezogen und hatte Fußpflege angeboten. „Ich hab Wurfzettel verteilt. Manche Leute haben die Tür zugeschmissen, aber einige waren auch freundlich.“ So hat die 45-Jährige bereits einen kleinen Kreis älterer Kundinnen erschlossen. Von den Einkünften kauft sie Stück für Stück neue Geräte. Was Hochwertiges soll es sein. „Ich habe mich für ein Ultraschallgerät entschieden, das kostet 3.000 Euro. Da braucht man aber 1.000 Euro Anzahlung. Die habe ich nicht.“ Aber sie werde den Betrag auf 500 Euro runterhandeln, setzt sie bestimmt hinzu. Man glaubt es ihr. Auch als sie sagt: „Das Geschäft wird laufen. Es gibt so viele Ältere hier. Es gibt Bedarf.“

Vielleicht holt sie ihre Mutter noch in den Laden. Die 67-Jährige macht trotz schwerer Diabetes noch Krankenbesuche. Auch sie macht Fußpflege. „Meine Mutter hat auch immer von einem Laden geträumt“, sagt die Tochter. „Aber sie hatte nie einen Partner. Ohne geht es nicht.“

Tracey Mauersberger

Die Anfälle kommen plötzlich. Beim Saubermachen in der Wohnung, beim Warten an der Ampel, bei einer Grillparty. Erst wenn sich Sanitäter um sie bemühen, wird ihr bewusst, dass die Krämpfe wieder über sie gekommen sind. Tracey Mauersberger ist Epileptikerin und gilt als schwerbehindert.

Ohne dieses Wissen sieht man nur eine junge Frau mit glattem dunklen Haar in einem langen Kleid, das selbstgeschneidert aussieht. Ihre gemütliche Einzimmerwohnung ist vollgestopft mit Nähmaschinen, Kleiderpuppen und Stoffresten. Dorthin flüchtet sie sich nach den Anfällen. Nach dem letzten traute sie sich zwei Wochen nicht aus dem Haus. Das ist neun Monate her.

Mit Tabletten und regelmäßigem Tagesablauf hat sie die Krankheit unter Kontrolle. „Eigentlich bin ich ein chaotischer Mensch“, gibt Mauersberger zu. Doch ihren großen Plan will sie nicht gefährden – den Laden. „Der muss jetzt endlich sein.“

Sie näht seit ihrer Kindheit. Ihre Oma meinte damals schon: „Kind, das kannst du verkaufen.“ Später in Berlin verkaufte sie Decken und Kissen auf Kiezmärkten. Die Preise entsprachen dem Geldbeutel der Käufer und nicht dem handwerklichen und künstlerischen Wert der Sachen. Vieles verschenkte sie auch.

Sie schneidert mit Hingabe. Wenn sie gerade wieder eine ABM-Stelle hatte, nutzte sie die Pausen, um Stoffreste zu kombinieren. Jetzt ist die 36-Jährige arbeitslos gemeldet und verbringt bis zu zehn Stunden an der Nähmaschine. „Die Arbeit ist etwas, was ich genieße.“ Vorausgesetzt, sie darf sich den Tag selbst einteilen. „Ich möchte mein eigener Chef sein.“

Die Idee einer Ich-AG gefällt ihr. Der Betreuer beim Arbeitsamt hat sie an das Projekt Enter Ability (siehe Kasten) verwiesen. „Dort wurde ich zum ersten Mal ernst genommen.“ Mit Enter Ability zusammen schneidert sie ein Konzept. „Wir reden ständig und machen einen wasserdichten Businessplan.“ Sie zeigt auf den Stapel Akten auf dem Holztisch. Auch bei der Wahl der passenden Räume berät sie ein Mitarbeiter. Im Laden will sie auf Anraten von Enter Ability nicht nur ihre künstlerischen Arbeiten verkaufen, sondern auch Kostüme verleihen und Kleider ändern.

Im Kiez ist sie bekannt. Ihre Patchworkdecken hängen schon passend zur Einrichtung einiger Mieter. Einmal im Jahr stellt sie sie im Kiezbüro aus. Bald werden sie im Schaufenster hängen, da ist Mauersberger sicher. Sie geht kein Risiko ein. Am Bordstein und auf der Bahnhofsplattform steht sie nie ganz vorn. Aber an der Nähmaschine hat sie nie einen Anfall gehabt.