das sklavenschiff
: Moral des Betrugs

Pierre Mary hatte großes Pech. Er war einer der wenigen Kapitäne eines Sklavenschiffes, die nach ihrer Fahrt von Gericht gestellt wurden. 1731 hatte er die „Diligent“ kommandiert – das Schiff, mit dem Kaufleute der kleinen bretonischen Stadt Vannes in das lukrativste Geschäft der damaligen Zeit einsteigen wollten: den Sklavenhandel. Schließlich machte er bereits die Bürger des benachbarten Nantes reich. Über die westafrikanische Küste führte Mary die „Diligent“ nach Martinique in der Karibik und wieder zurück nach Frankreich.

Losgefahren war er am 31. Mai 1731 mit einer Fracht aus Tuchen und Stoffen sowie Fässer voller Kaurimuscheln, zurückgekehrt 22 Monate später mit Fässern voller Zucker. Beides war unstreitig, die Eigner des Schiffes waren allenfalls enttäuscht, dass er zu wenig Zucker mitbrachte. Um was es eigentlich ging, war die so genannte Mittelpassage, die Fahrt zwischen Afrika und der Karibik, in der die „Diligent“ 256 Sklaven an Bord hatte, die vor allem im Sklavenhandelszentrum Whydah (im heutigen Ghana) gegen die aus Europa mitgebrachten Güter von afrikanischen „Lieferanten“ eingetauscht worden waren.

Aber nicht wegen des Menschenraubes, nicht wegen der menschenunwürdigen Behandlung der Gefangenen wurde Mary vor Gericht gestellt, sondern wegen Betrugs. Angeblich waren zwei der insgesamt neun an Bord gestorbenen Sklaven sein Privateigentum gewesen, die er jedoch gegen die Sklaven der Eigner ausgetauscht habe.

Angesichts des Schicksals der 256 Afrikaner und Afrikanerinnen, deren Leben man zerstörte, die man gegen ihren Willen in ferne Länder entführte und die dort bis an ihr Lebensende Zwangsarbeit leisten musste, erscheint der Betrugsvorwurf lächerlich. Er zeigt aber auf eindrucksvolle Art und Weise die moralische Doppelbödigkeit dieses lukrativen Geschäfts. Es leistete eben nicht nur einen zentralen Beitrag zum wirtschaftlichen Erfolg der Kolonien, sondern machte auch viele Europäer reich. Europäer, die sich als gute Christen verstanden und als ehrbare Menschen, die trotz hundertfachen Menschenraubes als honorig galten, bis sie gegen den ökonomischen Sittenkodex verstießen.

Es ist diese Perspektive der Europäer, die der renommierte Historiker Harms fast durchweg einnimmt. Außer den Gerichtsakten erlaubte ihm eine weitere spektakuläre Quelle einen genauen Blick auf die Verhältnisse an Bord aus der Sicht der „Sklavenhändler“: das private Schiffstagebuch des Ersten Leutnants der „Diligent“, Robert Durand. Dieses Tagebuch erst verwandelt die abstrakten statistischen Opferzahlen – allein 17.000 solcher Fahrten gab es im 18. Jahrhundert – in konkrete Schicksale. Durch Rückblenden und Exkurse ergänzt, entfaltet Harms auf beeindruckende Weise ein vielfarbiges Kaleidoskop von Sklavenjägern und Händlern, französischen Kaufleuten und karibischen Plantagenbesitzern. Er liefert eine Kulturgeschichte des Sklavenhandels, die das Individuelle hinter dem Allgemeinen hervortreten lässt.

Bedauerlicherweise erzählt Harms’ Buch allerdings bestenfalls die „halbe“ Geschichte. Mangels vergleichbarer Dokumente aus afrikanischer Feder fehlt eine ähnlich beeindruckende Beschreibung der Erfahrung der Sklaven, der Gefangenen an Bord, ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft. Dem Buch kann man dies nicht zum Vorwurf machen, zumal Harms im Unterschied zu vielen älteren Studien die Afrikaner keineswegs lediglich als passive Opfer malt. Wie aus seinen faszinierenden Kapiteln zu dem Handelsplätzen in Afrika hervorgeht, waren sie auch Akteure, die auf beiden Seiten der moralischen Linie agierten. Sie waren Opfer, die Widerstand zu leisten und ihre Würde zu bewahren versuchten, aber sie waren auch Sklavenjäger und -lieferanten – und damit Profiteure des Sklavenhandels.

Harms’ „Sklavenschiff“ ist ein großer Wurf der Geschichtsschreibung über das Menschheitsverbrechen Sklaverei. Die bisherigen Publikationen ergänzt es nicht nur, es schreitet voran auf dem Weg zu einer umfassenden Alltagsgeschichte der Sklaverei. Es sollte Ansporn sein, sich dem Thema in all seinen Facetten intensiv zu widmen. JÜRGEN ZIMMERER

Robert Harms: „Das Sklavenschiff. Eine Reise in die Welt des Sklavenhandels“. Aus dem Englischen von Michael Müller. C. Bertelsmann, München 2004, 572 Seiten, 26 Euro