Diven in der Wüste

AUSSTELLUNG Das Centrum Judaicum zeigt Fotografien von Rudi Weissenstein – Bilder, die das junge Israel feiern

Auf Weissensteins Fotos sind alle Menschen frei und gleich und geheimnisvoll

VON MARCEL MALACHOWSKI

Eine kleine, junge Surferszene gibt es mittlerweile in Gaza. Sie träumt von Freiheit, von Adrenalin, von hohen Wellen, vom Leben. Es sind fast dieselben Träume, die junge Jüdinnen und Juden hatten, als sie die Dunkelheit von Auschwitz hinter sich ließen, um im Licht des Mittelmeers ihre Zuflucht vor der deutschen Barbarei zu errichten – um „wieder zu Hause zu sein in der Welt“, wie Amos Oz schrieb.

Einer von ihnen war Rudi Weissenstein. Der böhmische Künstlersohn, 1910 geboren, lernte Buchdruck und war Soldat in Prag, bevor er 1936 in Haifa anlandete. Israel war noch nicht geboren, die Briten wollten eine Erez, eine Heimstatt, verhindern, arabische Terroristen massakrierten jüdische Siedler. Diese blutige und zugleich emanzipatorische Vorgeschichte Israels, die Gründung und die ersten Jahre des damals jungen Staates bildete Weissenstein in über einer Million Bildern ab, 80 von ihnen stellt nun das Centrum Judaicum aus. Mit der detailverliebten Poesie eines Hermann Hesse, mit der Leidenschaft eines Robert Capa, mit der Stringenz eines Helmut Newton stellte Weissenstein die Menschen in den Mittelpunkt: Auch wenn sie auf seinen Aufnahmen oft gar nichts tun und manchmal nur so im Bild rumstehen, so ging es ihm wohl doch nur um sie.

Weissenstein hatte tatsächlich das Talent, jeden Augenblick zu verwandeln in eine seelenvolle Ewigkeit, aus Soldatinnen wurden graziöse Diven der Wüste, eine unüberschaubare Menschenmasse in Tel Aviv zeigt er als kontrastreichen Chor der Individuen, Draufgänger mit Waffe geraten zu Epigonen braungebrannter Leichtigkeit. Der unnachahmliche Stil der 20er und 30er Jahre lebt in allen seinen Fotos weiter. Die urbane Impressivität Europas war sein künstlerisches Gepäck für die Wüste Galiläas: Sonnenlicht verwandelt er in seinen Aufnahmen in ein schäumendes Meer der Sehnsucht, der Sand der Negev wird bei Weissenstein zur fruchtbaren Oase juveniler Lebendigkeit, das schimmernde Meer vor Haifa verwandelt er in ein Aquarell von einem umwitterten Abend in südlicher Milde.

„Wohin du auch siehst, gibt es etwas zu sehen“, heißt es im Talmud. Und Weissenstein sah wirklich überall etwas. Jeder Mensch ist in seinen Fotos eine eigene Welt, und jedes von Weissensteins Bildern stellt eine andere Welt dar: junge Kibbuz-Girls, die keck am sonnengebleichten Holzzaun posieren, eine Frau im weißen Kleid an einer Kreuzung, die verloren wirkt und doch so, als wolle sie gerade nirgendwo anders sein, lächelnde Strand-Boys voller Ernsthaftigkeit. Er porträtierte schwermütige Beduinen genauso wie Ben-Gurion, Israels Philharmoniker, Marc Chagall oder das Bauhaus-Tel Aviv. In einem seiner Strandfotos (stolze Dame mit großem Hund) nahm er gar ein Videodesign von Beyoncé vorweg.

Den Schönen und den Abseitigen setzte Weissenstein gleichermaßen marmorgleiche Denkmäler. In seinen Fotos sind alle Menschen frei und gleich und geheimnisvoll. Und dennoch erzählen ihre vom Leben gezeichneten Gesichter von der offenkundigen Schmach und der Sehnsucht, von Sinnlichkeit und der immerwährenden Suche nach Freiheit, nach Leben. Weissensteins Aufnahmen sind die fotorealistische „Altneuland“-Utopie Theodor Herzls, der in Zion für alle einen neuen Hort der Aufklärung und der Künste schaffen wollte.

Rudi Weissenstein lebte bis zu seinem Tod 1992 in Haifa, der arabischsten Stadt Israels. Jerusalem betet, Tel Aviv lebt, Haifa arbeitet, sagen die Israelis heute. Dabei ist doch eigentlich Haifa die lebendigste Stadt: Arabisches Nightlife, jüdische Gewerkschafter, ein Handwerkerviertel, das die Liebe zu den kleinen Dingen pflegt. So wie Rudi Weissenstein. Und der fotografierte den großen Traum, der Israel heißt. Er lichtete die harte Arbeit und die schweißtreibende Disziplin ab, die nötig waren, ihn Wirklichkeit werden zu lassen in der unbarmherzigen Wüstenei.

Weissenstein war im besten Sinne ein romantischer, kosmopolitischer und bürgerlicher Zionist wie Theodor Herzl, der schrieb: „Wenn ihr wollt, ist es kein Traum.“ Den Traum von Freiheit träumen einige, viel zu wenige auch in Gaza. Vielleicht ist er noch nicht ausgeträumt. Wenn sie wollen.

■ „Ihr glücklichen Augen“. Bis zum 24. Juni. Neue Synagoge Berlin, Oranienburger Straße 28/30