Die Politik der kleinen Steine

SCHOTTER-AUFRUF Die Justiz verfolgt Menschen, die erklärt haben, den Castor-Transport zu untergraben

Die juristische Kernfrage: Ist der Castor-Transport ein „öffentlicher Betrieb“?

Hermann Theisen ist es gewohnt, angeklagt zu werden, seit er in den Achtzigern begann, sich friedenspolitisch zu engagieren. „In den meisten Fällen bin ich wieder freigesprochen worden“, sagt Theisen. Das Amtsgericht Lüneburg hat ihn jetzt aber doch verurteilt, zu 15 Tagessätzen à 40 Euro. Wegen einer Unterschrift im Internet.

Die Aktionsgruppe „Castor? Schottern!“ hatte 2010 aufgerufen, Steine aus dem Gleisbett zu entfernen und die Schienen nach Gorleben damit unbefahrbar zu machen. Theisen unterschrieb online den Aufruf, wie 1.732 andere Personen und Gruppen auch.

Und die hält das Schottern für eine Straftat nach § 316b Strafgesetzbuch, der vor Störungen öffentlicher Betriebe schützen soll. Dazu gehören grundsätzlich auch Eisenbahnen. Theisens Unterschrift wurde als öffentliche Aufforderung zu eben jener Straftat angesehen.

Die Lüneburger Amtsrichterin folgte bewusst nicht der Bitte von Theisens Rechtsanwalt Martin Heiming, eine mögliche Strafe auf 16 Tagessätze festzulegen. Ab da ist eine Berufung automatisch zulässig. Nun kann das Berufungsgericht entscheiden, ob es den Fall überhaupt noch einmal verhandelt.

„Dabei fehlt es an einem Urteil zum Schottern, das die politischen Gesamtumstände berücksichtigt“, sagt Heiming. Die Proteste um den Castor waren 2010 heftiger als in den Jahren zuvor. Die Bundesregierung hatte gerade erst die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke beschlossen. Den Aufruf zum Schottern hatte die Lüneburger Staatsanwaltschaft mit rund 1.800 Ermittlungsverfahren beantwortet. Wie Oberstaatsanwalt Roland Kazimierski sagt, sind die meisten Verfahren inzwischen eingestellt worden.

Wer nicht auf das Schreiben der Staatsanwaltschaft antwortete, kam unbeschadet davon: Weil im Internet unterzeichnet wurde, konnte nicht ermittelt werden, wer den Namen auf die Liste gesetzt hatte. Bei allen, die sich von dem Vorhaben distanzierten, wurden die Verfahren ohne Auflagen eingestellt.

Wer sich nicht distanzierte, bekam die Chance zur Einstellung mit Auflage, bei Zahlung von rund 100 Euro an den Verein „Kinder von Tschernobyl“. Nur eine Hand voll Personen zahlte nicht – deren Verfahren landeten vor Gericht. So wie bei Theisen. Sein Anwalt hält die Unterschrift nicht für strafbar. Sie sei weder eine öffentliche Aufforderung, noch sei das Schottern an sich nach § 316b strafbar.

Denn von einem „öffentlichen Betrieb“ könne keine Rede sein, die Strecke ist für alle anderen Züge gesperrt, Polizisten begleiten den Transport, der zudem auch noch einen Reparaturwagen mit sich führt. Was soll da passieren? Seine Unterschrift sei zudem von der Meinungsfreiheit geschützt. Sollte seine Berufung nicht zugelassen werden, will Theisen daher vor das Bundesverfassungsgericht ziehen.

Wie Theisen wollte auch Olaf Meier keine Geldauflage zahlen. Zum Ende einer Demo auf dem Lüneburger Marktplatz im November 2010 hielt er ein Castor Schottern-Plakat in die Höhe und sagte „Atomausstieg ist Handarbeit.“ Das Amtsgericht Lüneburg verurteilte Meier deshalb Ende Mai ebenfalls. Meiers Anwalt Alexander Hoffmann hat ebenfalls juristische Zweifel an der Strafbarkeit des Schotterns. „Doch die Gerichte, die das entscheiden, haben sich da schon festgelegt.“ Meier und auch „Castor? Schottern!“ berufen sich auf das Recht zum zivilen Ungehorsam: „Die Mehrheit der Bevölkerung lehnt eine Atompolitik ab, die ihre Proteste gegen eine so menschenverachtende Technologie ignoriert. Daher ist unser Widerstand auch legitim“, sagt Hanna Spiegel von „Castor? Schottern!“. Aber die Rechtsfigur des zivilen Ungehorsams erkennen deutsche Gerichte nicht an.

Anwalt Hoffmann vermutet hinter den Verfahren eine politische Entscheidung. Für Oberstaatsanwalt Kazimierski dagegen ergeben sich die Verfahren aus der Strafprozessordnung. „Bei einem Anfangsverdacht müssen wir ermitteln.“

Ein Jahr später, 2011, nach der Fukushima-Katastrophe, gab es übrigens keine erneuten Ermittlungsverfahren gegen die Aufrufe zum Schottern. JOHANN LAUX