So hat Stockhausen richtig Wumms

Bewusst und präzise gestaltet Sabine Liebner Klavierstücke von Karlheinz Stockhausen,
dem Großmeister der Nachkriegsmoderne. Zu hören ist viel atonale Schönheit

Karlheinz Stockhausen: „Klavierstücke I–XII“, Sabine Liebner (Wergo/Naxos)

Von Tim Caspar Boehme

Er ist ein viel zu selten gehörter Klassiker. Und einer, der immer noch wie unerforschtes Gebiet daherkommen kann. Selbst wenn man diese Musik schon einigermaßen kennt. Was der in Köln ansässige Komponist Karlheinz Stockhausen zwischen 1952 und 1957 für Klavier schrieb, war seinerzeit geeignet, um das Publikum in Rage zu versetzen. Heute spielt sich derlei oft unser Ausschluss einer größeren Öffentlichkeit im geschützten Rahmen ab, Protest ist da unwahrscheinlich.

Die Klavierstücke I bis XI von Karlheinz Stockhausen waren für den Großmeister der Nachkriegsmoderne als Skizzen gedacht für Großes – sein größtes Opus, der Opernzyklus „Licht“, bringt es auf eine Gesamtlänge von 29 Stunden, was ihn zum längsten Zyklus seiner Art macht.

Die Pianistin Sabine Liebner, Expertin für Neue Musik – was ja so viel heißt wie Komponiertes von Menschen, die noch leben oder noch nicht lange tot sind –, hat vor Kurzem die jüngste Aufnahme des Zyklus vorgelegt. Zwar ist die Münchnerin nicht die Erste, die diesen Zyklus, der eigentlich aus mehreren kleinen Zyklen besteht, vollständig eingespielt hat, jedoch die erste Frau. Andere Kolleginnen haben Teile daraus auf Alben veröffentlicht, als Referenzaufnahmen galten bisher die Interpretationen von Aloys Kontarsky aus dem Jahr 1965 und von Herbert Henck (1986).

Bei Liebner konnte Stockhausen nicht mehr selbst seinen Segen für ihre Lesarten geben, er starb 2007. Was an ihren Lösungen überrascht, ist mitunter die Dauer. Ihre Version von Klavierstück VI beansprucht 40 Minuten, bei Kontarsky und Henck sind es bloß 25. Diese Extraminuten nutzt Liebner aber für einen hochgradig differenzierten Anschlag bei diesem wie aus isolierten Ereignissen zusammengefügten Archipel aus Tönen. Überhaupt gestaltet sie diese „Stücke“, die für den offiziellen Kanon weiterhin zu sperrig sind, sehr bewusst und präzise, um sie als Wunderwerke des Klangs in der Zeit zur Geltung zu bringen.

Dabei straft sie zugleich, in Teilen jedenfalls, die Vorstellung Lügen, dass Musik aus der Nachkriegszeit, die ja für neue Menschen gedacht war, die mit allen Mitteln nach dem Zivilisationsbruch zu solchen erzogen werden sollten, unbedingt schmerzhaft sein muss. Hier hört man sehr viel atonale Schönheit, die in dieser Musik durchaus auch zu finden ist.

Und Wumms haben die Klavierstücke mitunter ebenfalls. Das Klavierstück IX mit seinen fein abgestuften Akkordwiederholungen, von gehämmert bis getupft, ist so ein Beispiel, fast wie Heavy Metal für ein Tasteninstrument. Und das Klavierstück X ist reinster Free Jazz, ein elastischer Klotz aus rhythmisch groovenden Clustern.

Um deutlich zu machen, was Stockhausen unter Aleatorik verstand, hat Liebner dessen Klavierstück XI denn auch gleich in zwei Versionen im Angebot, noch ein Vorzug dieser Platte. Die Noten des Stücks stehen auf einem einzigen großen Blatt, in mehreren isolierten Gruppen. Die kann der Pianist in beliebiger Reihenfolge und in frei gewähltem Tempo spielen. Angst braucht man von dieser Musik keine zu haben. Berührt werden kann man davon gleichwohl.