„Seien wir ehrlich: Das ist nicht viel“

Früher war Siemens ein Rundumversorger für seine Arbeiter – inklusive Krankenkasse und Wohnungen. Die Zeiten sind vorbei, daran ändere auch der neue Campus nichts, sagt Denkmalschützer Lutz Oberländer

Lutz Oberländer 52, ist Denkmalschützer und lebt seit 1999 mit seiner Familie in Siemensstadt. Er ist Autor von zwei Bildbänden über das Viertel und macht dort Führungen.

Interview Katharina Schmidt

taz: Herr Oberländer, warum waren die sumpfigen Nonnenwiesen damals so attraktiv für Siemens?

Lutz Oberländer: Das Gebiet war billig und gleichzeitig nahe an Berlin gelegen, wo es genug Arbeiter und einen Absatzmarkt gab. Außerdem waren die Nonnenwiesen durch die Spree als Wasserstraße und dem Bahnhof Jungfernheide gut angebunden. Damals, um 1900, gab es noch keine Autos. Die Arbeiter wurden also zunächst mit Schiffen hierher gebracht – es waren ja noch keine Wege vorhanden. Später wurde das Gebiet aufgeschüttet, um die ersten Gebäude zu bauen. Dementsprechend heißen viele der Straßen Rohr-, Siemens- oder Nonnendamm.

War Werner von Siemens ein sozialer Visionär?

Er war der Gründer. Es war sein Sohn Carl-Friedrich von Siemens, der den Wohnungsbau veranlasste und die Siemens-Krankenkasse aufbaute. Der Umfang, in dem sich um die Siemens-Mitarbeiter gekümmert wurde, war für die Zeit gigantisch. Allerdings hat das Unternehmen davon profitiert. Die Siedlung etwa, in der ich wohne, liegt nahe an den Siemenswerken. Hier durften nur Leute wohnen, die betriebswichtige Funktionen haben – mit dem kleinen Nachteil, dass sie Telefone bekommen haben. Wenn man angerufen wurde, durfte man gleich zur Arbeit kommen.

Ein soziales Programm mit Hintergedanken.

Das Gute und Lukrative liegt manchmal dicht beieinander. Siemens hat erkannt, wenn die Leute es nicht weit zur Arbeit haben, können sie längere Schichte arbeiten. Und wenn sie sich mit dem Unternehmen stark identifizieren, produzieren sie besser. Es gab einen Siemens-Kindergarten, eine Siemens-Schule, später fing man als Lehrling an und konnte sich bis zum Ingenieur hochqualifizieren – und wurde man krank, gab es die Siemens-Krankenkasse. Es war an alles gedacht – solange man dazugehört und nicht aus der Reihe tanzte. Wurde einer frech, musste er die Wohnung verlassen, was ganze Familien zerstören konnte. Oder wollte jemand aussteigen, verlor er seine Siemens-Pension. So schön die Verlockungen waren, sie hatten ihren Preis.

Der Siemens-Turm ist bis heute weithin sichtbar – eine Machtdemonstration?

Der Turm steht nicht zufällig wie ein Kirchturm in der Mitte. Die Siemensstadt war damals das Aushängeschild für Siemens, das den Anspruch hatte, Weltmarktführer zu sein. Hierher wurden in den 20er und 30er Jahren Politiker, Fürsten und Könige eingeladen, um ihnen zu imponieren.

Warum ging Siemens nach dem Zweiten Weltkrieg nach München?

Bereits 1944 hatten sich die Alliierten auf Jalta verständigt, wie sie Deutschland aufteilen. Siemens erfuhr davon durch gute Kontakte im Ausland und hatte wenig Interesse daran, den Sowjets die Patente und Mitarbeiter in die Hände fallen zu lassen. Alles, was für Siemens an Wert war, ist schon 1944 nach München oder Erlangen abtransportiert worden. Zudem war Berlin später als Mauer­stadt transportlogistisch von Nachteil. Siemens baute Turbinen und Großmaschinen, die erst durch die DDR gefahren werden mussten, um sie anschließend weltweit zu verkaufen. Genauso verhielt es sich mit den Rohstoffen.

Und nach dem Mauerfall begann Siemens mit dem Abbau seiner Berliner Produktionsstätten.

Siemens war in Westberlin Monopolanbieter bei Ampeln und U-Bahnen. Das fiel nach 1990 weg, da es den offenen Markt und Osteuropa mit den günstigeren Arbeitskräften gab. Außerdem wurde das ostdeutsche Umland stärker subventioniert. Also errichtete Siemens Werke in Nauen oder Görlitz und baute in Berlin ab. Der Konzern macht das geschickt. Als er die Mobilfunksparte loswerden wollte, hat er an Nokia verkauft, die Mitarbeiter haben ihre Arbeitsplätze behalten, bis Nokia das Werk geschlossen hat.

Jetzt kehrt Siemens zurück.

Ich denke, Siemens möchte eher einen Fuß in der Tür haben, sich aber nicht ernsthaft beteiligen. Wie viel sind denn 600 Millionen Euro, auf zehn Jahre verteilt? Zum Vergleich: Das Naturkundemuseum bekommt eine Milliarde auf einen Schlag. Der inaktive BER-Flughafen kostet pro Monat 30 Millionen Euro. Da wollen wir ehrlich sein: Die Summe ist nicht viel. Siemens kommt nicht zurück, sondern baut sich einen Forschungs­standort und setzt eine eigene Stadt in die Siemensstadt. Und wenn Siemens keine Lust mehr hat, sind die genauso schnell weg, wie sie gekommen sind.