Die immer spät siegen

Nach dem sensationellen 3:2 in Amsterdam steht Tottenham Hotspur im Champions-League-Finale. Dass es lange nicht nach einem Erfolg aussah, kennen die Londoner

Von Paris Saint-Germain weggeschickt, nun ein Hattrick im Halbfinale: Lucas Moura Foto: reuters

Von Hendrik Buchheister

Er hatte im Rasen der Arena von Amsterdam gekniet, er hatte geweint wie ein Baby, er hatte seine Spieler umarmt und vor dem Gästeblock gejubelt wie ein Besessener, doch als er später seine Analyse dieses zweiten wundersamen Champions-League-Abends innerhalb von 24 Stunden vortrug, sah Mauricio Pochettino einfach nur abgekämpft aus.

„Ich habe vorher schon gesagt, dass meine Spieler Helden sind. Ich glaube, sie sind jetzt Superhelden. Was sie geschafft haben, kommt einem Wunder nahe“, sagte der Trainer von Tottenham Hotspur nach dem 3:2-Erfolg bei Ajax, der seiner Mannschaft einen Platz im Finale gegen den FC Liverpool am 1. Juni in Madrid gebracht hat.

Wie am Abend zuvor, als Liverpool mit einem 4:0 gegen den FC Barcelona die 0:3-Niederlage aus dem Hinspiel umgebogen hatte, gelang auch dem Klub aus dem Norden Londons ein episches Comeback.

Das erste Treffen mit der jungen Ajax-Truppe im eigenen Stadion war 0:1 verloren gegangen, im Rückspiel stand es zur Pause 0:2. Doch ein Hattrick des Brasilianers Lucas Moura brachte die Spurs zum ersten Mal seit dem Gewinn des Uefa-Pokals 1984 wieder in ein europäisches Finale. Der entscheidende Treffer, das 3:2, fiel in der 96. Minute. Dramatischer kann Sport nicht sein.

Tottenham ist ein erstaunlicher Endspiel-Teilnehmer, vielleicht der erstaunlichste seit Borussia Dortmund vor sechs Jahren. Wirtschaftlich kann der Verein nicht mithalten mit den Klubs, die normalerweise den Gewinn der Champions League unter sich ausmachen oder zumindest ausmachen wollen. Er liegt beim Umsatz deutlich hinter Real Madrid, Barcelona, dem FC Bayern, Paris Saint-Germain oder Liverpool – allerdings vor Ajax.

In dieser Saison gelang das Kunststück, keinen einzigen Spieler zu verpflichten. Außerdem wurde Tottenham durch eine quälende Heimatlosigkeit geplagt, weil sich der Umzug aus dem ungeliebten Wembley-Stadion in die neue Spielstätte immer weiter verzögerte, bis Anfang April.

In der Champions League waren die Spurs bei der dritten Teilnahme nacheinander eigentlich schon ausgeschieden – und das gleich mehrmals. In der Vorrunde holte die Mannschaft aus den ersten drei Partien nur einen Punkt. Dank später Treffer gegen Eindhoven, Inter Mailand und Barcelona verhinderte sie dreimal das Aus in der Gruppenphase. Im Viertelfinale jubelte Manchester City schon über das Weiterkommen nach Raheem Sterlings Treffer in der Nachspielzeit des Rückspiels, doch er wurde auf Grundlage der Videobilder wieder zurückgenommen.

In dieser Saison haben die Spurs keinen einzigen neuen Spieler verpflichtet

Gegen Ajax lag Tottenham nach drei von vier Halbzeiten mit drei Toren hinten, nach dem 0:1 im Hinspiel und dem 0:2 zur Pause des Rückspiels. Was folgte, war ein leidenschaftlicher Kampf, der auch ein – am Ende erfolgreicher – Kampf gegen das Klischee war, dass dem Klub die Widerstandsfähigkeit fehlt, dass er „spursy“ ist.

„Es war keine taktische Leistung, es war eine Leistung mit Herz“, sagte Spielmacher Christian Eriksen hinterher im Gespräch mit dem Fernsehsender BT Sport – und fügte an: „Mit Herz und Lucas Moura. Ich hoffe, er bekommt in England eine Statue.“

Es hat eine gewisse Ironie, dass gerade der 26-jährige Stürmer aus São Paulo den Weg ins Endspiel ebnete. Er kam Anfang 2018 von Paris Saint-Germain, als bislang letzter Transfer, den Tottenham getätigt hat. In Frankreichs Hauptstadt war er aussortiert worden nach der Ankunft der Superstars Kylian Mbappé und Neymar. Sie konnten am Fernseher verfolgen, wie der einstige Kollege seine neuen Arbeitgeber dorthin brachte, wohin sie so dringend wollen. Der Trainer, der Moura an Tottenham abgab, war übrigens Unai Emery. Er betreut seit dieser Saison den Nordlondoner Rivalen Arsenal. Ein Umstand, der den Finaleinzug noch ein bisschen süßer macht für die Fans der Spurs.

In die Euphorie mischen sich allerdings auch Zukunftsängste. Denn Trainer Pochettino hatte am Abend vor dem Rückspiel seinen Abschied nach fünf Jahren angedeutet, sollte er dem Klub die Silbertrophäe mit den Riesenhenkeln in die Vitrine stellen. „Wenn ich mit Tottenham die Champions League gewinne, unter diesen Umständen, in dieser Saison, dann muss ich vielleicht darüber nachdenken, künftig etwas anderes zu machen“, hatte er gesagt. Möglicherweise ist das die übliche Kokettieren eines Mannes, der immer wieder als Kandidat bei Real Madrid oder Manchester United gehandelt wird und kein Geheimnis daraus macht, dass ihn die begrenzten Möglichkeiten bei Tottenham frustrieren. Möglicherweise ist er aber auch einfach nur: abgekämpft.