„Es geht um Gerechtigkeit, nicht um Rache“

Unser Autor war vor mehr als 13 Jahren bei dem italienischen Prozess gegen die SS-Männer dabei, die gegen Ende des Krieges die Bewohner*innen eines Bergdorfs in der Toskana ermordet hatten. Keiner der Angeklagten war zu dem Prozess erschienen. Und dennoch war er wichtig – für die Überlebenden

Die Täter sind verurteilt: der Bürgermeister von Sant‘Anna di Stazzema, Michele Sillicani (links), umarmt am 22. Juni 2005 vor dem Gerichtsgebäude in La Spezia einen Überlebenden des Massakers Foto: Luca Zennaro/dpa

Von Andreas Speit

Im Gerichtsaal des Militärtribunals in der italienischen Hafenstadt La Spezia waren fast alle Plätze belegt. Mit Spannung und Sorge erwarteten Verwandte und Angehörige der 560 Ermordeten, alte Männer, Frauen und Kinder, die Urteilsverkündung. Nur die Anklagebank war leer. Keiner der zehn ehemaligen Angehörige der 16. SS-Panzergrenadier-Division „Reichsführer SS“ stand im Saal, als das Tribunal nach und nach ihre Namen und das Urteil verkündete: „lebenslänglich“. Kaum hatte der Vorsitzende Richter die Schuldsprüche dargelegt, kam Applaus auf. Die Angehörigen umarmten sich, drückten sich. Sie waren erleichtert.

Dreizehn Jahre und 316 Tage ist diese Urteilsverkündung zu dem schlimmsten Massaker an Zivilisten während des Zweiten Weltkriegs in Italien her. In den vergangenen Jahren habe ich immer wieder über Verfahren gegen Wehrmachts- und SS-Angehörige berichtet. Diese Verfahren berühren den Beobachter besonders, wenn Überlebende berichten oder sich Täter weiter rausreden wollen. Geschichte und Gegenwart fallen dann in Sekunden zusammen: Bei den Zeugenaussagen ist der Einfluss der Verbrechen auf das Leben der Überlebenden und der ihnen folgenden Generationen spürbar, hier ist nichts vergangen. Auf der anderen Seite versuchen die meisten Täter, sich innerlich abzuschotten. Die Angeklagten sind alle längst im hohen Alter, manche rüstig, manche gebrechlich. Sie alle holt mit dem Verfahren diese nicht vergehende Vergangenheit ein. Die Verbrechen können nicht mehr privat verdrängt werden.

Der Mittwochabend vor dreizehn Jahren und 316 Tage bestärkte mich in der Überzeugung, dass die juristische Aufarbeitung der SS- und Wehrmachtsverbrechen politisch notwendig ist. An diesem Tag wurde deutlich, wie wichtig es für die Überlebenden und ihre Nachkommen ist, dass die Ermordung ihrer Verwandten auch rechtlich als Unrecht anerkannt wird; dass nun kein Zweifel mehr daran bestehen kann, dass es nicht vielleicht doch diese selbst waren, die sich schuldig gemacht haben. Die Erleichterung in den Gesichtern, die Freude, die Tränen waren stärker als die Überlegung, ob die „alten Greise“ für so „lange zurückliegende Verbrechen im Krieg“ überhaupt noch angeklagt werden müssten.

In einer Zeit, in der nicht nur im hart rechten Milieu eine Wende in der Erinnerungs- und Gedenkkultur herbeigeredet wird, könnte die juristische Bewertung der NS-Verbrechen entschieden werden. Lange diente der Satz „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein“ in der Nachkriegszeit dem Schutz der Täter. Jetzt ist die Debatte wieder da.

Und in der italienischen Gesellschaft ist der Faschismus nicht minder präsent. Die Diskussion über die Partisanenkämpfe gegen die Wehrmacht belastet bis heute Familien. Auf welcher Seite stand man damals? Pro Benito Mussolini, den „Duce“, oder contra? Wann lehnte man den italienischen Faschismus ab?

An der Macht hielt sich die Waffenbrüderschaft von nationalsozialistischem Deutschland und faschistischem Italien bis 1943. In diesem Jahr zerbrach die „Achse“ Berlin–Rom, Italien schloss einen Waffenstillstand mit den West­alliierten. Aus „Brüdern“ waren „Verräter“ geworden. Die Wehrmacht marschierte in Italien ein.

Am 12. August 1944 griffen etwa 300 SS-Männer das toskanische Bergdorf Sant’Anna an. Ein Massaker jenseits „der Menschlichkeit“, hieß es später. An diesem Sommertag drangen die SS-Männer in das Dorf ein, töten die Menschen mit Schusssalven und Flammenwerfern, Handgranaten und Bajonetten.

Bis zu jenem Mittwochabend in La Spezia vor dreizehn Jahren und 316 Tagen hatten die Überlebenden und ihre Angehörigen 61 Jahre auf einen Schulspruch warten müssen. „Endlich“, meinte eine Frau im Gerichtssaal, die nur überlebt hatte, weil ihre Mutter bei der Erschießung auf sie fiel. Freude auch bei Silvia Pardini, damals neun, vor deren Augen die Mutter und die zwei Schwestern abgeschlachtet worden waren. „Jetzt ist das Massaker juristisch als Verbrechen bewerte worden“, sagte Enio Mancini, der ebenfalls nur durch Glück nicht ermordet wurde. Um „Rache“ gehe es nicht, sondern um „Gerechtigkeit“, sagte er später.

Nach dem Schuldspruch: Szenen aus dem Gerichtsaal von La Spezia Foto: Luca Zennaro/dpa

Den Angehörigen, die ich bei der Urteilsverkündung treffen durfte, ging es nie darum, ob einer der jetzt alten Männer noch in Haft kommen würde. Sie wollten, dass deren Taten juristisch als Verbrechen anerkannt wurden, sagte Enrico Piere, der bei dem Massaker zehn Jahre alt war und Eltern, Geschwister und Großeltern verlor, insgesamt 25 Familienmitglieder.

Die Überlebenden und ihre Angehörigen hofften, dass auch in Deutschland ein Prozess folgen würde. 2015 war diese Hoffnung zerstoben. Die Staatsanwaltschaft Hamburg stellte die Ermittlungen gegen einen der Hauptbeschuldigten ein – eine schwere Demenzerkrankung hatte zur dauerhaften Verhandlungsunfähigkeit des alten Mannes geführt.

Nach der Urteilsverkündung von La Spezia besuchten wir mit Überlebenden das Dorf Sant’Anna, dass die SS zu 90 Prozent ausgelöscht hatte. Ich, ein Nachfahre aus der Land der Mörder und Henker, durfte ihre Freude teilen. Es ist leicht, bei dieser Auseinandersetzung auf der „richtigen Seite“ zu stehen – bei den Opfern. Doch wie nah steht man den Tätern?

Vom Hügel blickend konnte man sich vorstellen, wie morgens die Mörder hochkamen. Ein beschwerlicher Aufstieg, nur um zu töten. Wäre man mitmarschiert, hier heraufgekommen, hätte eines der 130 Kinder ermordet? Hätte man die „Befehle befolgt“, wie mancher Verurteilte zu seiner Entlastung geltend machte? Weiß man wirklich die Antwort?