Europa,
deine
Plätze

Siebzig Europaplätze gibt es in Deutschland – von Aachen über Nordhorn bis Xanten. Aber ist auf diesen Plätzen auch Europa? Und wenn ja, wie viel? Sechs Autor*innen haben sich für uns auf die Suche begeben

Europaplatz Berlin

Rund um die Wahlen zum Europäischen Parlament erscheint die taz ab Montag, dem 6. Mai drei Wochen lang mit sechs Sonderseiten zum Thema Europa. Und weil Europaplätze natürlich nicht nur in Deutschland liegen, schreiben Autor*innen für uns von Europaplätzen auf dem ganzen Kontinent – täglich ein kurzes Gedicht oder einen Text, mit Schnappschuss vom jeweiligen Platz.

Der Polygame

Alle Fotos: Die Autor*innen Foto: Europaplatz Troisdorf

Troisdorf Fast lebensgroß ist die Figur, die in einem angedeuteten Kreis steht, die Arme ausgebreitet hat und so ein großes „E“ bildet. Aus vielen Edelstahlstücken zusammengesetzt, fast amateurhaft zusammengeschweißt, bildet sie doch ein gelungenes Ganzes. Peter Sonnet zeigt auf ein Messingschild. „Vision von Europa“ steht darauf. „Der Künstler Michel Poix kommt aus unserer französischen Partnerstadt Evry. Passt doch gut hier hin, oder?“ Hier, das ist der Europaplatz in Troisdorf, einer Stadt mit 77.000 Einwohnern zwischen Bonn und Köln. Ein Teil des Europaplatzes ist ein Spielplatz. Drei Mädchen waten durchs Wasserbecken. Der Troisdorfer Pressesprecher setzt sich auf eine Bank im Schatten, um über Europa nachzudenken. Mitte 60 ist er, blaues Hemd, blaue Jeans, sonore Stimme. 1990 wurde aus dem namenlosen Ort der Europaplatz. Wie es dazu kam, weiß keiner mehr. Am Morgen hat Sonnet im Stadtarchiv recherchieren lassen, ergebnislos. „Einer wird die Idee gehabt haben, der Rest hat wohl zugestimmt“, sagt Sonnet. Mache ja auch Sinn hier. „Sehr viele internationale Bewohner, vor allem Belgier wohnen hier, wegen der belgischen Kasernen, die bis 2005 in der Stadt betrieben wurden.“ Was hat Europa mit Troisdorf zu tun? „Städtepartnerschaften“, platzt es aus Sonnet raus. Acht Partnerstädte hat Troisdorf, fünf europäische. Schon früh seien Gastarbeiter aus Griechenland und der Türkei in die Stadt gekommen, später seien dann Partnerschaften zu deren Heimatorten entstanden. Es folgten Orte in Frankreich, Großbritannien, Kosovo und Belgien. Ein Verein organisiert ein jährliches Austauschprogramm, Teilnehmer schlafen bei heimischen Familien, lernen deren Alltag kennen. „Leider vergreisen die Partnerschaften, kaum junge Leute machen mehr mit, die fliegen für wenig Geld lieber woanders hin“, sagt Sonnet etwas wehmütig.

Und sonst, Europa und Troisdorf? Die EU-Zuschüsse für die Stadt, für Schulen, für Kultur und Austausch seien natürlich großartig. Einige Regeln etwa zur europaweiten Ausschreibung von Baumaßnahmen dagegen weniger erfreulich. Für die vielen Firmen in Troisdorf sei der europäische Binnenmarkt ein Segen, die Sorge vor dem Brexit deshalb groß, größer als für die Bürger. „Man unterhält sich in der Stadt selten über Europa, außer es gibt Probleme“. Ansonsten lässt sich natürlich günstig tanken in Belgien und die vielen Touristen aus Holland sind gut für die Stadt. Trägt der Platz zu Recht Europa im Namen? „Klar. Es gibt viel Platz, viel Grün, es gibt Kunst, man kann feiern und er ist vor allem für die Kinder da. Zukunft eben. Das ist schon Europa hier.“ Paul Wrusch

Der Geläuterte

BerlinIch denke den Europaplatz als vollgeschriebenen Notizblock. Als Gegenübertragung,wobei wir die Patienten sind und Geschichte die Therapeutin. Denke mir die Schweizer Botschaft als Architektur gewordene Resilienz. Denke, vielleicht sind das Zeiten, in denen es genügt, den Stift auf das Papier zu halten.

Mein Verhältnis zur Idee Europa entspricht dem Verhältnis meiner Dichtung zur Sprache. Beides Versprechen mit prekärer Sicherheitslage. Aber die Sonne ist shining und das Wetter ist sweet. Unter dem apfelkuchenwarmen Asphalt die Liebe zur Heimat als verzichtbares Fundament. Ein Leben Songtexte gehört und nun sind wir so klug wie die Vätermütter des Grundgesetzes.

Es ist nicht einfach, schreibt eine Dichterin, fehlende Erinnerungen mit Stadtschlössern zu ersetzen. Oder Kindern. Am Grunde der Havel wandern die Steine. Ich würde euch gerne vermitteln, wie Menschen um ihr Leben schwimmen. Was ist noch mal der Unterschied zwischen vergessenen Dichtern und Dichtung in anderer Sprache?

Früher waren mehr Straßenbahn und mehr Kaufhalle. Mehr Kohleöfen, mehr Tonnen aus Blech. Die Glut brauchte einige Stunden, bevor der Deckel als Gewehrschuss gegen die dahinter liegende Ziegelwand knallte. Den Innenhöfen ihre eigene Schrecksekunde Todesstreifen. Nach der Therapie fühlte ich mich wie ein sanierter Altbau an einer befahrenen Kreuzung.

Europaplatz im April. Europaplatz als Haltestelle Gegenwart, als Architektur gewordenes Vergessen. Würde das gern besser fassen, aber jede Beschreibung trägt Mikroschichten Farbe ab. Gelegentlich fürchte ich, auch wir könnten als Schwarz-Weiß-Aufnahmen enden. Denke diesen Text als eine Lunte, die in eure Herzen reicht. Eure Augen als letztes Streichholz in meiner Packung.

Max Czollek ist Lyriker und Sachbuchautor. Er kuratiert derzeit die Reihe „Eurovision Poetry“ im Literaturhaus Berlin, für die er Lyriker*innen aus Europa einlädt. Die nächsten Lesungen finden am 20. Mai und am 4. Juni um 19:30 Uhr statt.

Der Grenzenlose

Europaplatz Recklinghausen

Recklinghausen Hört ihr es nicht rufen? Wie es um eure Aufmerksamkeit buhlt, nach Anerkennung japst, auf dem Europaplatz in Recklinghausen höre ich es ganz deutlich. Das Ruhrgebiet ruft euch. Weil ihr es noch immer behandelt wie die deutsche Mittelstandsfamilie den heroinabhängigen Cousin, für den sie sich schämt. Es soll ja alles schlimm sein hier, die letzte Studie, die das belegt, dröhnt ihm und mir noch im Kopf. Und ich stehe wirklich mittendrin in diesem ja so wenig lebenswerten Gebiet. Was sehe ich also? Arbeitslosigkeit, Armut, Strukturwandel? Ja, auch. Was ich sonst noch sehe: Europa.

Ein Europa der unterschiedlichen Sprachen, und doch der einen Stimme. Jetzt dreht euch doch mal um und seht her. Wir leben sie hier längst, wenn auch im Kleinen, diese beste aller guten Ideen. Ich sage euch, es ist geschafft, wenn es sich in Reims irgendwann so anfühlt wie in Recklinghausen. Wir sind solidarisch, wir sind unterschiedlich, und doch: Wir sind eins. Wir frotzeln übereinander, aber nie in den wirklich wichtigen Fragen. Unsereins antwortet „Ruhrgebiet“, wenn wir auf Reisen gefragt werden, woher wir kommen. Irgendwann einmal will ich „Europa“ antworten und das auch so meinen.

Wenn man so will, gibt es ihn natürlich auch bei uns noch, diesen miefigen Geruch von Heimat. Der mal schmeckt, auf der Zunge zerfällt, wie die entweder rosafarbene oder weiße Zuckerhülle von Schokolinsen mit Pfefferminzgeschmack. Der mal riecht nach mit Teppichboden bezogenen Treppenstufen, wo jeder Grünkohldunst vom Sonntagmittag stecken blieb. Der mal spricht: „Ich komme aus Dortmund, und der Idiot aus Gelsenkirchen, oh je.“

Und doch: Wir sind eins. Von jeder Ecke dieses blitzförmigen Sees kann ich das spüren. Von jeder Ecke verläuft der Blick ein bisschen anders, verliert sich in einem anderen Stück Recklinghausens, des Ruhrgebiets, Europas. Die Menschen, die nicht aussehen wie ich und doch zu mir gehören. Eine europäische Gesellschaft, eine offene, offen über ihre Grenzen hinaus. Hanna Voß

Der Regulierte

Europaplatz Braunschweig

Braunschweig Neunundzwanzig Fahnen wehen im Wind

schwarz, weiß, grün, rot, orange.

Und blau mit gelben Sternchen.

Zu ihren Füßen ein paar Blumen,

adrett, sauber und ordentlich.

Ich bin hier oft gewesen, mehr so im Vorbeigehen. Auf dem Europaplatz bleibt man nicht, aber es führt auch kein Weg an ihm vorbei, jedenfalls kein kurzer.

Der Europaplatz ist ein Platz, aber eben kein Ort.

Spuren und Schienen und Ampeln und Schilder,

Europa deutet in jede Richtung.

Also fahre ich mit dem klapprigen Fahrrad meiner Jugend im Kreis, erst um den Platz

und dann quer rüber.

Kein Mensch zu sehen in der Mittagssonne, ach so, dann doch,

es nähert sich ein Mann

mit Trekkingrad und verspiegelter Sportsonnenbrille:„Wie können Sie nur!“

Heftiges Kopfschütteln.

Langsames Vorbeiradeln.

„Wie können Sie nur in die falsche! Richtung! fahren!“

Wie kann ich nur!

Nicht Frage, sondern Vorwurf

Reingeschmettert in meine klapprigen Speichen

Klar, es gibt hier Regeln, natürlich. Selbst dann, wenn nur einer guckt.Linksrum, rechtsrum, aber bitte bloß nicht falschrum.

Europaplatz in Braunschweig ist

Nation (Fahnen, wehend),

Repräsentation (Blumen, adrett),

Regulation (Ordnung, mahnend).

Und mehr als alles andereIrritation. Lin Hierse

Der Verschämte

Europaplatz München

München Der Europlatz ist hier gleich hinter dem Friedens­engel. Das gibt zu denken. Denn der Friedensengel ist eigentlich eine Siegesgöttin: Nike. München schenkte sich die vergoldete Flügelfigur anlässlich des Friedens, den Deutschland 1871 mit Frankreich schloss – nachdem man den Nachbarn besiegt hatte. Seitdem prangt der Engel auf seiner Säule über dem Hoch­ufer der Isar wie ein ausgestreckter Mittelfinger gen Westen. Für welches Europa steht dieser Europaplatz, wo eine Siegesgöttin bis heute den Krieg verherrlicht?

Der Platz ist umfriedet von Villen, man könnte auch sagen: begrenzt. Zur Linken die Filiale eines Schweizer Geldhauses, das jahrzehntelang den Abfluss europäischen Kapitals in die Steuerfreiheit mit organisierte. Zur Rechten, hinter hohen Büschen und Zäunen, das Russische Generalkonsulat. Europa trifft hier sozusagen auf seine Endgegner. Zwischen Schweizer Bankentresoren und russischen Mittelstreckenraketen klemmt ja irgendwie auch Europa – und kommt nicht voran. Schon gar nicht im Osten, wo man die europa­freundliche Ukraine hinhält, mutmaßlich wegen des großen, drohenden Nachbarn.

Und hier wird es jetzt kurz idealistisch. Ein paar Schritte vom Europaplatz entfernt hängt an einem Balkon das Transparent „Russland, Ukraine, Europa, Syrien – Welt ohne Putin“. Es ist der Balkon einer Russin, die in München lebt und seit Jahren ihren Protest in Sichtweite des Russischen Generalkonsulats platziert. Und in Sichtweite des Europaplatzes.

Im Grunde ist das Europa, das München seinem Straßennetz gönnt, ein ziemlich verschämtes. Im Grunde kennt kein Münchner den Europaplatz, weil er eigentlich nur ein kleiner Kreisel ist auf der großen Prinzregentenstraße, die das München der Repräsentationspaläste von Osten nach Westen durchschneidet. „Der deutschen Kunst“ ist das Prinzregententheater an ihrem Anfang gewidmet. Und demselben Zweck widmete sich einst auch Hitlers „Haus der Deutschen Kunst“, das an ihrem anderen Ende in Stein hingeklotzt wurde. Und irgendwo unscheinbar in der Mitte eine Ausbeulung namens Europa, die es den SUV-Fahrern erlaubt, eleganter abzubiegen. Tobias Krone

Der Fragende

Europaplatz Frankfurt (Oder)

Frankfurt (Oder) Am Anfang Verwirrung. Ist der Platz inner- oder außerhalb der Uni? Die digitale Karte lokalisiert ihn innerhalb. Kann ein Europaplatz eine Mensa sein? Wir fragen ein paar Studenten: Ratlosigkeit. „Fotografiert einfach den Eingang der Uni, das ist dann die Grenze.“ Europlatzbeschreibung: Der Platz draußen scheint eher eine Haltestelle zu sein, die Straßenbahn blinkt auf, „Europa Universität“.

Der Platz steht still, in einer immer gleichen Bewegung: Transitort. Eine Ahornallee säumt die Linie der Straßenbahn. Gen Norden blickend: Plattenbau, lang und schlank. Südlich: idyllische Vorstadthäuser in Pastell. Osten: Viadrina Europa­universität, Backsteinklotz. Westen: verfallenes Fabrikgelände, überwuchert.

Vor der Haltestelle eine Europastatue: Ein großer, langer, nach oben breiter werdender Eisenstab, der eine Lücke lässt, in die sich ein anderer Stab einpasst. Die Skulptur wirkt kalt gegen den tief hängenden Maihimmel. Unten am Sockel Ausschnitte aus Politikerreden, kaum lesbar, irgendwas mit konkreter Utopie, wahrscheinlich das: Hierzulande Kontinentaleuropa. Frankfurt Oder. Zweifel schon im Namen. Unentschlossen: Frankfurt, oder? Das Double der ostdeutschen Provinz streichelt Polen. Frankfurt sitzt mit Europa auf’nem Platz, sie diskutieren.

Europa benennt sich neu nach ihr: Europa Oder, kaum zwanzig auf diesem Platz, rebellisch, laut, lustig lachend schon wieder den Zeus geklaut, natürlich. Europa klaut ihn immer.

Sie in safrangelben Gewändern oder in Kaschmir-Einteilern meinetwegen. Utopisch Eingemachtes mit Zeus gegessen. Beim Essen erkannt, dass Zeus einen faschistoiden Komplex hat und nicht für sensible, leise Dinge taugt. Plädoyer fürs Neuverstehen. Die großen Säle, die Glaspaläste umstrukturieren, andere Litfaßsäulen, Europa Oder hat jetzt keine Lust mehr auf große Töne. Sitzt an der Grenze zu Polen, sucht andere Definitionen. Warum die Alten wiederholen? Und all die unbeantworteten Fragen: provokative Möglichkeiten.

Jana Krüger