die gesellschaftskritik
: Schön wie Bruce Lee

Warum wollen Chinesinnen europäisch aussehen? Und genauso wichtig: Wann eigentlich ist das chinesische Schönheitsideal aus der europäischen Kultur verschwunden?

Die Frage „Wer ist die Schönste im ganzen Land?“ würde sich eine junge, hübsche Chinesin niemals stellen. Wohl aber die Frage: „Wer hat die hellste Haut, die größten Augen, kurz: wer sieht am europäischsten aus?“

Auf chinesischen Hochzeiten wird nicht etwa chinesische Musik gespielt, sondern ein klassisch europäisches Streichquartett engagiert, das in Barbie-Kleidchen und bevorzugt C-Dur ein bisschen Mozart und Bach zum Besten geben soll. Begeistert machen alle chinesischen Gäste Selfies mit der Haupt­attraktion, die das Quartett im Flur ist – und nicht das Brautpaar. Im öffentlichen Raum wird man in China als Europäer oft angehalten, um als Fotomodel für das Album mit allen Familienmitgliedern zu posieren. Und erreichen junge Chinesinnen das Alter der so genannten „leftovers“ (Frauen über 28, die noch nicht verheiratet sind), dann wird auch gerne über eine Operation nachgedacht, die eine chinesische Nase zu einer „westlich-schlanken“ macht.

Europa ist Prestige, ist trendy. Doch herrscht eine offensichtliche Diskrepanz zwischen der Faszination der Chinesen für westliche Gesichtsform und Kultur und der zugleich abweisenden Haltung des Staates gegenüber dem Westen. Nach Meinung des chinesischen Staates muss nämlich der zentrale und dekadente Teil der westlichen Kultur, Selbstverwirklichung durch individualistisches Erscheinungsbild und ebensolcher Lebensstil, aus den Köpfen der Chinesen verschwinden. Ist jene Faszination der Chinesen für Europa vielleicht gar im Keim aus diesem Verbot erwachsen? Eine Vielzahl chinesischer junger Frauen malen sich eine europäische Lidfalte auf die Augen und passen ihren Teint durch weißen Puder westlichen Standards an. Fotobearbeitungs-Apps, die Augen vergrößern und künstlich Wangenknochen erzeugen, sind auf den meisten chinesischen Handys installiert.

Schönheitsideale, so könnte man meinen, richten sich stets nach dem, was man selbst nicht hat. Im 18. Jahrhundert wollte man möglichst dick sein, denn Essen im Überfluss war ein Privileg der Oberschicht. Doch wieso hört man in Deutschland keinen Jugendlichen sagen: „Ich wünschte, ich sähe aus wie die chinesischen Stars Li Bingbing oder Bruce Lee?“ Zu Beginn des 17. Jahrhunderts ging die Bewunderung noch in entgegengesetzter Richtung. Mit großem Interesse erkundete der italienische Jesuit Matteo Ricci das Land der Mitte und erstellte das erste chinesische Wörterbuch in eine europäische Sprache. Und als der Theoretiker Roland Barthes im letzten Jahrhundert nach Asien reiste, wurde seinem Gesicht von der lokalen Presse sogar auf Fotos seines Besuches asiatisch nachgeholfen: Augenveränderung wurden vorgenommen, um Barthes „schöner“ zu machen.

Der große Forscher Baer findet „die Überlegenheit der Europäer im Vergleich zu Asiaten in der eingeschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für das, was sie glauben, angeben können“, also in der Fähigkeit zum kritischen Denken. Vielleicht ist es das, was in China nicht zur Genüge gelehrt wird. Denn denkt man einmal kritisch darüber nach, wird schnell klar, dass Schönheit nichts mit Augengröße und Nasenbreite zu tun hat. Maya Oppitz, Peking